Die Entstehung der Cocktailkultur in Deutschland
[Teil 1 von 2 | English version]
Der Leipziger Verleger Dr. Paul Martin Blüher hat in seinen kulinarisch ausgerichteten Lexika zwar keine Rezepte, aber dennoch eine enorme Menge an Detailinformationen zur entstehenden Cocktailkultur in Deutschland überliefert. — Das kulinarisch-lexikographische Interesse am Begriff „Cocktail“ lässt bei Blüher die beginnende Etablierung in der deutschen Gastronomie der Jahrhundertwende erkennen. — Blüher nennt auch Cocktails, die ansonsten unbekannt sind oder die erst später bekannt wurden. — Das Wissen in Deutschland über Cocktails war stark geprägt von Gewährsmännern aus den USA, die häufig deutscher Abstammung waren. — Neben amerikanischen Cocktailbüchern spielen englische Publikationen eine wichtige Rolle in der deutschen Rezeption. — Bei Blüher in Leipzig konnte man die Bücher von Jerry Thomas, William Terrington, Harry Johnson und William Schmidt kaufen. — Aus dem Jahr 1899 liegt eine vollständige Barkarte aus Berlin vor. — Cocktails waren auch in Deutschland schon immer teuer.
Der Leipziger Verleger Dr. Paul Martin Blüher hatte zunächst kein besonderes Interesse an Cocktails – auch wenn er wenige Jahre später mit dem „Mixologist“ von Carl August Seutter eines der ersten deutschen Cocktailbücher verlegen sollte. Blühers eigene Veröffentlichungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren vor allem geprägt von seinem Bemühen, sämtliche Begriffe der festen und flüssigen Kulinarik in ihrer korrekten Form zu dokumentieren und zu katalogisieren. Sie werfen damit einige spannende Schlaglichter auf die erwachende Cocktailkultur in Deutschland. Dabei kam es Blüher offenbar mehr auf die orthographische Tadellosigkeit von Speisekarten als auf einen kulturpessimistischen Sprachpurismus an. Noch ein Jahr vor Lößnitzers „Verdeutschungswörterbuch der Fachsprache der Kochkunst und Küche“, an dem Blüher mitgearbeitet hatte [Blüher 1901, 3], veröffentlichte er 1888 in seinem Verlag die „Rechtschreibung der Speisen und Getränke“ als, wie es auf dem Titelblatt heißt:
„Zuverlässiges Auskunftsbuch über die im gastwirtschaftlichen Gewerbe, in der Kochkunst, Kunst- und Feinbäckerei, bürgerlichen Küche, Charkuterie, Konserven- und Delikatessen-Branche wie in der Getränkekunde vorkommenden Bezeichnungen zur Aufstellung, Rechtschreibung und zum Verständnis der Speisekarten, Menüs, Weinkarten, Preis-Verzeichnisse, Etiketten usw.“
Offenbar hatte Blüher damit eine Lücke geschlossen, so dass das Buch „binnen wenigen Monaten »vergriffen« (gänzlich ausverkauft)“ und so begehrt war, dass es bald zu Sammlerpreisen gehandelt wurde [Blüher 1899, 3]. Auf 392 Seiten werden unzählige Einträge, gruppiert in thematische Abschnitte, in ihrer korrekten deutschen, englischen und französischen Bezeichnung nebeneinandergestellt. Der III. Abschnitt zu Getränken, der vor allem von Wein handelt, hat einen zweiseitigen Anhang über „American drinks“. Darin wird die Zubereitung von 15 Getränken vorgestellt, darunter Brandy Smash, Champagner und Sherry Cobbler, Gin Cocktail, Gin Sling und Knickerbocker.[1] Leider war es bisher nicht möglich, ein Exemplar einzusehen, da anscheinend auch für die wenigen besitzenden Bibliotheken gilt, was Blüher ohne falsche Bescheidenheit über seine „Rechtschreibung“ postulierte: „Wer das Buch hat, hält es eben als einen unveräußerlichen Schatz fest“ [Blüher 1899, 3]. Glücklicherweise ist die Zweitauflage von 1899 wesentlich besser verfügbar und – wie noch zu zeigen sein wird – für die Anfänge der Cocktailkultur in Deutschland wesentlich ertragreicher. Doch erst einmal entstand ein anderes Buch.
Herr Blüher aus Leipzig und sein Meisterwerk
Tatsächlich machte sich Blüher sofort nach dem Erfolg der Erstauflage an die Arbeit nachzulegen, wollte aber keinen bloßen Nachdruck veröffentlichen, sondern noch vollständiger und noch richtiger sein. Bei der Überarbeitung ergaben sich Unterschiede in Konzeption und Umfang, so dass zwischen 1893 und 1896 in mehreren Lieferungen ein voluminöses Verzeichnis von fast 15.000 Speisen und Getränken auf mehr als 2.000 Buchseiten entstand. Es war keine Zweitauflage, sondern ein eigenständiges Werk entstanden, das folgerichtig einen neuen, eigenen Titel erhielt: „Meisterwerk der Speisen und Getränke“. Sämtliche Speisen und Getränke, die Blüher zusammen mit einem ganzen Stab von Ko-Autoren aufspüren konnte, wurden „systematisch nach ihrer Abstammung, nach den Grundbestandteilen in zusammengehörende Gruppen geordnet“ [Blüher 1899, 4].
Ausschließlich den Getränken ist der zweite Teilband des zweiten Bandes des „Meisterwerks“ als „Zuverlässigstes und grösstes Fachwerk“ gewidmet. Den größten Raum nehmen Weine aus der ganzen Welt ein, gefolgt von Spirituosen, Bieren und Mineralwassern. Natürlich interessiert hier insbesondere der Abschnitt VII. über „Bowlen, Punsche, Amerikanische Getränke (Mixed drinks)“ mit über 1.500 Einträgen[2] (auf die in der Folge noch einzugehen sein wird). Auch wenn hier nur die Namen der Getränke aufgeführt und grob nach Gattungen sortiert sind, lassen sich einige Informationen daraus ziehen.
Trotz des erklärten Anspruchs der „Verdeutschung“ war Blüher mit seinem „Meisterwerk“ erfrischend international aufgestellt [Blüher 1901, 3]. So zählte zu seinen engsten Mitarbeitern sein Stiefsohn Curt Zeiler, dessen frühen Tod er 1897 beklagen musste. Zeiler hatte sieben Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt, wo er sich „die gründlichsten Kenntnisse im Englischen angeeignet“ hatte [ebd.]. Es liegt nahe, dass dieser seinen Stiefvater nach der Rückkehr nach Leipzig dabei unterstützte, zu Recherchezwecken „Briefe an verschiedene Autoritäten, oft in den entferntesten Ländern, selbst Kalifornien und Australien“ zu schreiben [ebd., 5].
Herr Husmann aus Brandenburg
Einen der Gewährsmänner in Kalifornien, George Husmann, führt Blüher im Vorwort des Getränkebands namentlich auf [Blüher 1901, 1529]. Weil über dessen Leben und Wirken Einiges bekannt ist, was ein eindrückliches Schlaglicht auf die Verbindungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert wirft, sei auf Husmanns Biografie kurz eingegangen: 1827 im brandenburgischen Meyenburg geboren, kam er als Zehnjähriger mit seinen Eltern von Wilhelmshaven aus in die Vereinigten Staaten. Die Familie zog es zunächst nach St. Louis, eine Hochburg deutscher Auswanderer (in der man möglicherweise bereits Verwandte oder Freunde hatte). 1839 ließ sich die Familie in Hermann, Missouri, nieder, einem Ort der zwei Jahre zuvor durch die „Deutsche Ansiedlungs-Gesellschaft zu Philadelphia“ östlich von St. Louis im noch heute sog. „Rhineland“ gegründet worden war.[3] Dort, wo der Junge aus Brandenburg seine ersten Reben pflanzte, hat das Weingut G. Husmann Wine Co. noch heute seinen Sitz.
Nach dem Bürgerkrieg, in dem er wie die meisten Deutsch-Amerikaner auf Unions-Seite für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft hatte, veröffentlichte er 1866 das erfolgreiche Fachbuch „Cultivation of the Native Grape and Manufacture of American Wines“ [Husmann 1866], das ihm dazu verhalf, zu einem ausgewiesenen Experten des Weinbaus in Amerika zu avancieren. Nach Jahren vornehmlich akademischer Betätigung wurde Husmann 1881 eingeladen, Manager der Talcoa Vineyards in Napa, Kalifornien, zu werden, wo seine Weine große Erfolge erzielten. Bis zu seinem Tod 1902 in Napa veröffentlichte er weitere Fachbeiträge, u.a. das Standardwerk seiner Zeit „Grape Culture and Wine Making in California“ [Husmann 1888].
Was amerikanische Weine anging, war Blüher offenbar gut beraten. Im Vorwort zur 2. Auflage des „Meisterwerks“, das auf den Juli 1897 datiert ist, kündigte er darüber hinaus ein separates Getränkebuch an, das mit amerikanischer Hilfe entstehe [Blüher 1901, 6]:
„Außerdem liegt bereits das von uns verfaßte, von einem bewährten Fachmann in Amerika geprüfte und vervollkommnete Manuskript zum größten »Buch der Getränke« mit etwa 1200 bewährten Bereitungsvorschriften nahezu druckfertig vor und wird […] (etwa im Jahre 1898) erscheinen.“
Das Werk scheint jedoch nie veröffentlicht worden zu sein. Von einem „Buch der Getränke“ unter Blühers Ägide findet sich keine Spur und der Getränke-Teilband des Meisterwerks enthält auch in der vierten Auflage 1904 keine „Bereitungsvorschriften“ (wir würden sagen: Rezepte).
Herr Brehme aus Brooklyn
Für das Kapitel über die Mixed drinks, das hier im Zentrum der Betrachtungen steht, hatte Blüher indes amerikanische Hilfe. Die Einleitung stammt von Gustav Brehme, dem ersten ordentlichen Club Manager des 1889 gegründeten Montauk Clubs in Brooklyn, New York [Blüher 1901, 1535 f., vgl. Blüher 1899, 670]. Zuvor hatte Brehme ebenfalls in Brooklyn beim renommierten Hamilton Club als Steward gearbeitet. Verbunden mit einem ansehnlichen Gehalt war er in seiner neuen Stellung beim Montauk Club mit der Procura ausgestattet, den Wein- und Spirituoseneinkauf des Clubs eigenverantwortlich zu tätigen.
1892 wurde er zwischenzeitlich festgenommen, weil er einen Aufzug-Pagen des Clubs tätlich angegriffen hatte, da dieser nach Brehmes Ansicht zu lange Mittagspause gemacht hatte. Für den Club war die Entgleisung anscheinend nicht mehr als ein Kavaliersdelikt, denn die Position des Club Managers wurde nicht neu besetzt. Während der Montauk Club noch heute unter der Adresse 25, 8th Avenue aktiv ist, nahm Brehme 1902 seinen Hut, um zusammen mit dem Chefkoch des Montauk Club in Manhattan ein Restaurant zu eröffnen (ein Umstand, der Blüher bei der 4. Auflage des Meisterwerks 1904 offenbar nicht bekannt war). Gustav Brehme starb 1913. Auf der Website des Montauk Clubs, von der die meisten dieser Informationen stammen, ist sein Vorname als „Gustave“ wiedergegeben.[4] Der Schreibweise des akribischen Zeitgenossen Blüher ist jedoch mehr Vertrauen zu schenken, so dass Herr Brehme einer der vielen deutschen Einwanderer in New York gewesen sein dürfte. So ist es zumindest im Bereich des Möglichen, dass die Einleitung keine Übersetzung aus dem Englischen ist, sondern in Brehmes Muttersprache abgefasst wurde.
Brooklyn war im Vergleich zu Manhattan zwar nicht das Epizentrum der Cocktailkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Eindrücke und das Wissen dürften dennoch wesentlich unmittelbarer und wenigstens zum Teil durch eigene Anschauung bzw. Verkostung zustande gekommen sein. Nach einem recht bemühten Bogen zu Schiller, Homer sowie zu Gelehrten der Renaissance wird der Punsch als Vorläufer des zeitgenössischen American mixed drinks aus dem 17. Jahrhundert vorgestellt. Schließlich kommt Brehme zu des Pudels Kern [Blüher 1901, 1881 f.]:
Die Zuordnung der Drinks zu Männern und Frauen mutet einem modernen Lesepublikum anachronistisch an – was es zweifelsohne ist. Gänzlich befremdlich ist jedoch der Hinweis auf Alkoholkonsum durch Kinder. Angesichts einer erstarkenden Temperance-Bewegung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, die nicht nur in den USA unermüdlich und mit zunehmender gesellschaftlicher Durchdringung auf die (bis dato bekannten) Gefahren des Alkohols aufmerksam machte, könnte Brehme auch unter Zeitgenossen für Verwunderung gesorgt haben. Zwar dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass er für ein Lesepublikum in Deutschland schrieb, dennoch bleibt unklar, ob er deutsche oder amerikanische Verhältnisse vor Augen hatte, als er über die Allgegenwart der American bar schrieb. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass spätestens ab 1899 in vielen deutschen Städten American Bars entstanden, die zumeist erwartungsgemäß in Hotels eingebunden waren, vereinzelt aber auch im Rahmen von Messen oder als eigenständige Gastronomie auftauchten. (Auch das wird hier noch einen eigenen Beitrag wert sein.) Die Angabe, dass solche Bars „auf den meisten Vergnügungs- und Bade-Plätzen“ zu finden seien, lässt sich soweit nicht belegen. Brehme könnte in Amerika bspw. Orte wie Coney Island im Sinn gehabt haben, das in den 1870ern als Amüsierviertel aufgeblüht war. Zuletzt scheint er in dem zitierten Abschnitt vorauszusetzen, dass man in American Bars vornehmlich amerikanisches Publikum anträfe, dass sie aber auch für „Angehörige anderer Nationen“ attraktiv waren. Ob man das Szenario nun in Deutschland oder in den USA verortet, setzt es einen regen, internationalen „Fremden-Verkehr“ voraus. Das traf vielleicht auf Berlin und Hamburg zu, aber wohl nicht auf Städte wie Aachen oder Magdeburg. Manches an der Bemerkung über die Ubiquität der American Bar bleibt daher leider im Dunkeln.
Im weiteren Verlauf kommt Brehme auf die eigentlichen Drinks zu sprechen, die er einer Klassifizierung zuführt [Blüher 1901, 1882]:
Es folgt eine beispielhafte Aneinanderreihung der Namen von 52 „Short“ und 46 „Long drinks“, die sich alle im eigentlichen lexikographischen Teil des Kapitels wiederfinden. Auch Brehme gelingt es nicht, eine vollends schlüssige Klassifikation aller American drinks zu erstellen, so dass er alternativ noch „mehrere, durch ihre Bereitungsart verschiedene Gruppen“ bietet, die im Wesentlichen dem Erwartbaren entsprechen: Sours, Cocktails, Juleps, Punches, Cobblers, Fizzes, Noggs und Flips sowie Diverse. Zu jeder Gruppe werden im Folgenden die wichtigsten Zutaten und Charakteristika ihrer Zubereitung vorgestellt, so auch zum Cocktail [Blüher 1901, 1882]:
Das Etikett „Mixed drink par excellence“ ist Zeugnis für die besondere Popularität, die der Cocktail im 19. Jahrhundert in Amerika erreichte und die dazu beitrug, dass „Cocktail“ schließlich zu einem Oberbegriff werden sollte. Der folgende, teilweise englische Satz spricht dafür, dass Brehme seine Einleitung auf Deutsch geschrieben hat, da es nicht Blühers leidenschaftlicher Akribie entspräche, einen Halbsatz unübersetzt zu lassen, nur weil er Verständnisschwierigkeiten bietet. Es handelt sich um ein verstümmeltes Zitat des Engländers William Terrington aus seinem „Cooling Cups and Dainty Drinks“ [Terrington 1869, 190]:
„COCKTAILS are compounds very much used by »early birds« to fortify the inner man, and by those who like their consolations hot and strong.“
Dass Cocktails in ihren Anfängen als Morgen-Drink galten, ist bekannt. Glücklicherweise hat man daran nicht festgehalten, denn das morgendliche Trinken ist doch ein wenig in Verruf geraten (vielleicht aus guten Gründen). Damit der Satz nicht ganz so esoterisch klingt, ist es wichtig zu wissen, dass der „inner man“ im britischen Englisch mit einem zwinkernden Auge den Magen bezeichnen kann. Die medizinische Wirkung, die alkoholischen Getränken – insbesondere solchen mit Bitters – nachgesagt wurde, klingt hier deutlich an. Dass Brehme aus Terringtons Buch zitiert, ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Da man bis heute nichts über den Autor von „Cooling Cups“ herausgefunden hat, wird zumeist angenommen, dass es sich um ein Pseudonym handelt. Eine kurze Zeitungsnotiz aus dem Erscheinungsjahr deutet darauf hin,[5] dass das Buch möglicherweise Teil einer Marketing-Kampagne der Wenham Lake Ice Co. aus Massachusetts war, die damit ihr Geschäft in Europa ankurbeln wollte. Terrington widmet der Verwendung von Eis einen ganzen Teil seines Buchs [Terrington 1869, 124 ff.]. Im Wesentlichen hatte er über Cups schreiben wollen, eine vor allem in England beliebte Getränkekategorie, die eng mit dem Punch verwandt ist. Im Vorwort gibt der Autor zu erkennen, dass ihn die Arbeit an dem Buch dazu führte, eine umfassendere Darstellung zu schreiben, so dass auch moderne amerikanische Getränke – wie eben Cocktails – ihren Weg in die Publikation fanden [ebd., iii f.]. Im Inhaltsverzeichnis wurden dementsprechend Getränke amerikanischer Herkunft mit einem „(A)“ versehen, englische mit einem „(E)“. Herausgegeben wurde das Buch vom Routledge-Verlag, der neben seinem Stammsitz in London bereits seit 1854 einen zweiten Sitz in New York unterhielt. So ist es ohne weiteres plausibel, dass der Club Manager des Montauk in Brooklyn das britische Bar-Buch in Händen halten konnte. Dass er daraus zitierte, um einem deutschen Lesepublikum den amerikanischen Cocktail zu erklären, überrascht vielleicht.
Der Hinweis auf die ausgebildete Individualität der Cocktails, die jeweils die Identität der Bars und der Barkeeper in Amerika ausmachten, klingt erstaunlich aktuell nach unserer Gegenwart: „Jeder ist stolz auf seine Eigentümlichkeiten, und Jeder glaubt, daß seine Zusammenstellung die vorzüglichste sei.“ Man kann nur hoffen, dass die Eigentümlichkeiten der Drinks und nicht die der Barkeeper gemeint sind. Dass sich der Bezug zu diesen Aussagen so leicht herstellen lässt, liegt in zwei Dingen begründet: Zum einen sind die Wandelbarkeit und die Offenheit für kreative Gestaltung von jeher Erfolgsrezept (sic) des Cocktails. Zum anderen hat die Cocktail-Renaissance der letzten Jahrzehnte zu einer Rückbesinnung auf genau diese Haltung hervorgebracht: Der Gast profitiert vom Wettbewerb, der zu immer besseren Drinks führt. Im Idealfall jedenfalls.
Brehmes Anleitung für die Herstellung eines Cocktails (mit der er Terrington nicht folgt[6]), ist prinzipiell nicht zu widersprechen, lediglich das Durcheinanderwirbeln klingt nach mehr Agitation im Glas, als der zügig, aber konstant im Kreis geführte Barlöffel erzeugen sollte – da man ja gerade die Belüftung des Shakens vermeiden will. Abgesehen von Harry Johnson dürfte zu diesem Zeitpunkt jedenfalls niemand in deutscher Sprache eine so brauchbare Anleitung gegeben haben. Für Brehme sind Cocktails ausschließlich gerührte Drinks, den Shaker ordnet er den Sours, Fizzes, Noggs und Flips zu. Die Präsenz von Likören in Brehmes Beschreibung kann dem Umstand geschuldet sein, dass sich die Entwicklung hin zu komplexeren Rezepturen und ein breiteres Verständnis des Begriffs in den USA bereits vollzogen. Noch fühlte er sich jedoch genötigt, eine Auffang-Kategorie „Diverse drinks“ zu benennen [Blüher 1901, 1883]:
Die Ähnlichkeit zu Cocktails ist leicht nachvollziehbar, gibt Brehme doch in diesem abschließenden Absatz seiner Einleitung unwissentlich eine Beschreibung des heutigen, weit gefassten Verständnisses von Cocktails. Der Steward des Montauk Clubs in Brooklyn hat ansonsten bis dato keinen Einzug in die mixographische (oder potographische) Literatur gehalten und wird zweifelsohne nicht zu den Großen zu zählen sein. Blüher hatte für sein Meisterwerk jedoch einen verlässlichen Gewährsmann gefunden, der dem gastronomischen Fachpublikum fundierte Einblicke in die Materie gewährte. Es ist denkbar, dass das angekündigte „Buch der Getränke“ mit Brehmes Hilfe entstehen sollte. Vielleicht wollte Blüher von ihm authentische „Bereitungsvorschriften“ bekommen, die dann vielleicht zum ersten deutschen Cocktailbuch geführt hätten. Die drei Seiten Einleitung verraten Potenzial, doch müssen diese Überlegungen Spekulation bleiben. 1909 sollte Carl August Seutter das Versprechen in Blühers Verlag einlösen können [Seutter 1909].
Cocktails aus Manhattan, London und Lima
Was auf Brehmes Einleitung folgt, sind elf Buchseiten, die in je drei Spalten ca. 1.500 Namen von Getränken bieten, die in die Rubrik „Bowlen, Punsche, Amerikanische Getränke etc.“ fallen. Neben den angekündigten 34 Juleps, ca. 290 Punches bzw. Punschen, 16 Juleps, 15 Fizzes, fünf Noggs und 21 Flips finden sich Crustas, Daisies, Fixes, Pick-Me-Ups, Skins, Slings und Smashes. Stichprobenartig seien im folgenden die 42 aufgeführten Cocktails ein wenig unter die Lupe genommen [Blüher 1901, 1885 f.]:
Cocktail.
— absinthe-.
— anglers‘.
— Athletic club-.
— bitter-sweet.
— Bombay-.
— bourbon-.
— brandy-.
— “ , fancy.
— “ , improved.
— calisaya-.
— champagne-.
— Chinese.
— cider- or cyder-.
— club-.
— coffee-.
— Curlier-Courvoisier-.
— East India-.
— electrical.
— gin-.
— Holland gin-.
— gin-, improved.
— old Tom gin-.
— Hoffman House-.
— Japanese.
— Jersey-.
— Manhattan.
— “ , fancy.
— Martinez-.
— Martini-, engl. (St.) Martin’s.
— morning glory-.
— noyau-.
— old man’s.
— Peruvian.
— Riding club-.
— rye-.
— Saratoga-.
— soda-.
— south-coast-.
— vermouth-.
— “ , fancy.
— whisky-.
— Yale-.
Betrachtet man die Zusammenstellung genauer, verrät sie, welche Cocktailbücher ihr wohl zugrunde liegen: 23 der Drinks finden sich in der 1887er Auflage von „American and Other Drinks“, das der amerikanische Bartender Charlie Paul nach seiner Übersiedlung nach England veröffentlicht hatte. Darunter sind verräterische Namen, die sich in anderen Büchern der Zeit nicht finden, bspw. der „Anglers‘ Cocktail“, der „Bombay Cocktail“, der „Chinese Cocktail“, der „Noyeau Cocktail“ [sic] sowie der „South Coast Cocktail“. 19 Drinks finden sich bei George Kappeler [Daun 2022b, 90-93], einem weiteren Auswanderer in den Staaten mit deutschem oder, wahrscheinlicher, schweizerdeutschem Namen. Die Erstauflage seiner „Modern American Drinks“ von 1895 wird ebenfalls durch Drinks verraten, die sich sonst nicht finden: der „Yale Cocktail“, der „Calasaya Cocktail“ [sic] und der „Riding Club Cocktail“, der auch mit Calisaya zubereitet wird, laut David Wondrich ein aromatisierter Wein aus Spanien [Wondrich 2022, 252]. Der Umstand, dass der lateinische Name des so genannten Echten Chinarindenbaums Cinchona calisaya lautet, könnte auf dessen Verwendung und somit eine schöne Bitternote hindeuten.[7] Die Gewinnung von Chinin hatte eine neue Dynamik gewonnen, nachdem der britisch-stämmige Alpaka-Farmer Charles Ledger aus Peru im Jahr 1865 unter dramatischen Umständen Saatgut einer besonders chininhaltigen Unterart der Chinchona calisaya aus Bolivien beschaffen konnte, das anschließend nach London verschickt wurde. Es waren dann jedoch holländische Kaufleute, die in den 1870ern mit dem systematischen Anbau der Chinchona calisaya ledgeriana in Java begannen.[8] Die agrarische Neuerung erregte in der Fachwelt Aufsehen, so dass es zumindest gut in die Zeit passen würde, wenn hier tatsächlich Chinarinde gemeint wäre.
Besonderes Augenmerk verdienen die fünf Cocktails, die in den Büchern der Zeit gerade nicht zu finden sind. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bevor die ersten Cocktailbücher veröffentlicht wurden, die Rezepte der neuartigen Lifestyle-Drinks vor allem in Tageszeitungen und Magazinen abgedruckt wurden [Haigh 2020, 342]. Hier ist sicherlich noch nicht jeder Archiv-Schatz gehoben worden.
Doch zunächst zum „Athletic club-Cocktail“: Der Name lässt an den Detroit Athletic Club (DAC) denken, in dem der berühmte Last Word auf Initiative eines gewissen Frank Fogarty erfunden wurde [Saucier 1951, 151], eine potente Mischung, die Martin Stein einen „flüssige[n] Wolpertinger“ genannt hat [Stein 2019], bestehend aus gleichen Teilen Dry Gin, Maraschino, grüner Chartreuse und Limettensaft. Das Problem an der Sache ist nur, dass sich der Drink erst 1915/16 belegen lässt [Haigh 2020, 93; Wondrich 2022, 293] und dass er eigentlich immer seinen Namen Last Word behielt. Erst mit der Cocktail-Renaissance der letzten zwei Dekaden sind Variationen des Last Word entstanden, die die Referenz auf den DAC im Namen tragen, bspw. der East Village Athletic Club Cocktail, der 2008 in der PDT Bar in New York erstmalig angeboten wurde [Zimmermann 2018], oder der Detroit Athletic Club Cocktail aus dem Jahr 2010, der zwar in Colorado entstand, dessen Erschaffer Donovan Sornig aber in der Gegend des tatsächlichen Clubhauses des DAC in der 241 Madison St in Detroit aufgewachsen ist.[9]
Der „Curlier-Courvoisier-Cocktail” trägt mit Courvoisier eines der großen Cognac-Häuser nach Hennessy, Martell und Rémy Martin im Namen. Ab 1796 war Emmanuel Courvoisier an einem Wein- und Spirituosengeschäft vor den Toren von Paris beteiligt, bevor er 1828 in Jarnac im Département Charente die Maison Courvoisier gründete. Als sein Sohn und Nachfolger Félix Couvoisier 1866 kinderlos starb, übernahmen dessen Neffen Félix und Jules Curlier das Unternehmen.[10] Die Brüder führten beide Familiennamen auf den Etiketten, so dass beim „Curlier-Courvoisier-Cocktail“ vermutlich schlicht Cognac aus dem Hause Courvoisier die Basis war. Flaschen aus der Zeit werden heute zu exorbitanten Preisen gehandelt. Intakte Exemplare „Courvoisier & Curlier Cognac“ mit einer Abfüllung „Old Cognac“ angeblich von 1789 erzielten schon Preise im niedrigen sechsstelligen Bereich. Da der enthaltene Cognac demnach aus mindestens 70 Jahre altem Wein gemacht sein musste, als die Brüder Curlier ihn auf den Markt brachten, wird die Abfüllung auch bei Erscheinen kein Schnäppchen gewesen sein. Was sich genau hinter dem „Curlier-Courvoisier-Cocktail“ verbirgt, bleibt für den Augenblick ein Rätsel. Möglicherweise handelte es sich schlicht um einen Brandy Cocktail als Call Drink, also unter Verwendung einer spezifischen Spirituose.
Wesentlich klarer ist das Bild, was in einen „Hoffman House-Cocktail“ gehört: Plymouth Gin, trockener Wermut, Orange Bitters und eine Zitronenzeste. Das 1864 eröffnete Hoffmann House Hotel am Madison Park, 25. Straße/Ecke Broadway (200 Meter neben dem 1902 erbauten Flatiron Building), war mit seinem Barroom eine der ersten Adressen der goldenen Cocktail-Ära in New York [Wondrich 2022, 63]. Dessen ansonsten unbekannter Head-Bartender Charles S. Mahoney hat 1905 den „Hoffman House Bartender’s Guide“ veröffentlicht, der mehrfach wiederaufgelegt wurde – das Buch enthält allerdings keinen „Hoffman-House-Cocktail“. Das Rezept begegnet uns erst in Harry Craddocks “Savoy Cocktail Book” von 1930, was zweifellos damit zusammenhängt, dass dieser von 1912 bis 1915 im Hoffman House arbeitete, bevor er nach London kam [Craddock 1930, 83; vgl. Miller & Brown 2013, 116 f.]. Nichtsdestotrotz scheint der Drink bereits in den 1880ern beliebt gewesen zu sein [Wondrich 2005, 78], so dass die Erwähnung in einem Leipziger Lexikon von 1901 den Eindruck einer gewissen Kontinuität und Beliebtheit unterstützt.
Was den „old man’s Cocktail“ angeht, könnte man den Fall ähnlich sehen, da erst 1930 in „The Home Bartender’s Guide and Song Book“ von Charlie Roe und Jim Schwenck das Rezept für einen „Old Man Cocktail“ aus Anisette, Blended Scotch, rotem Wermut und Orangenzeste erschien. Das Rezept aus der Prohibitionszeit verlangt den heute nicht mehr erhältlichen Usher’s Green Stripe, was insofern interessant ist, als Andrew Usher und seinem Sohn Andrew jun. die Erfindung des Whisky-Blendings im Jahr 1853 zugeschrieben wird.[11] Anisette kann verschiedene Spirituosen auf Anis-Basis von leichten, süßen Likörchen bis hin zu Pastis bezeichnen. Am geläufigsten ist die Anisette von Marie Brizard, die seit dem 18. Jahrhundert in Frankreich produziert wird. Was dagegen spricht, dass wir hier einen 30 Jahre älteren Beleg dieses Cocktails vorfinden, ist weniger der Umstand, dass bei Blüher der Name mit dem besitzanzeigenden „’s“ gebildet ist anstatt schlicht mit „Old Man“, als vielmehr dass der Name – in welcher Schreibweise auch immer – weitaus weniger spezifisch als „Hoffman House“ ist und bis heute immer wieder in verschiedenen Variationen für Cocktail-Namen herhalten muss. Zudem schreiben Roe und Schwenck ihren „Old Man“ einem Oberkellner namens C. Pasquil aus dem Norden Frankreichs zu, der das Rezept eingesandt habe [Roe & Schwenck 1930, 53; Übers. d. Verf.]:
„Mr. C. Pasquil, head waiter at the Grand Hotel de la Paix, Albert, Somme, the starting point for visitors to the Battlefields, sends in this one.“
„Herr C. Pasquil, Oberkellner im Grand Hotel de la Paix in Albert an der Somme, dem Ausgangspunkt für Besucher der Schlachtfelder, schickt dies ein.“
Die Formulierung deutet nicht gerade auf eine 30 Jahre zurückliegende Urheberschaft des Monsieur Pasquil hin. Albert war im Ersten Weltkrieg Aufstellungsort der britischen Truppen vor Beginn der großen Schlacht an der Somme 1916 und wurde auch danach immer wieder Schauplatz von Kampfhandlungen, so dass es bei Ende des Krieges völlig zerstört war. In der zitierten Bemerkung bei Roe und Schwenck können durchaus amerikanische Besucher gemeint sein, da im letzten Kriegsjahr auch verschiedene US-Divisionen an der Somme gegen die Deutschen kämpften. Der Name des „Friedenshotels“ könnte auf eine Benennung nach dem Krieg hindeuten. Nichts weist hingegen darauf hin, dass es sich bei Blühers „old man’s cocktail“ um denselben Drink handelt.
Auch der „Peruvian Cocktail“ gibt Rätsel auf. Versteht man den Namen als eine Anspielung auf seine Zutaten, wird man als erstes an Pisco denken. Ab 1822 war der peruanische Weinbrand in San Francisco verfügbar [Wondrich & Rothbaum 2022, 545]. (Die chilenische Pisco-Variante darf hier wohl ignoriert werden.) In Form von Pisco Punch erlangte die Spirituose ab 1864 im Zuge des Goldrauschs einen festen Platz im kalifornischen Getränkekanon [ebd., 543]. Vor allem durch Duncan „Pisco John“ Nicol, der ab 1893 Bartender im berühmten Bank Exchange Saloon in San Francisco war, gelangte der Drink zu Ruhm auch über die Staatsgrenzen hinaus [ebd. 545]. Der heute weit verbreitete Pisco Sour lässt sich erst ab 1903 durch eine Broschüre eines gewissen S. E. Ledesma über die kreolische Küche belegen.[12] Ab 1916 verhalf Victor „Gringo“ Morris mit seiner American Bar in Lima dem Pisco Sour zu Berühmtheit [Wondrich 2022, 115]. Neben Pisco gibt es noch cañazo, den eigenen Zuckerrohrschnaps der Peruaner, der jedoch über die Landesgrenzen hinaus bis heute keine weite Verbreitung gefunden hat [Wondrich & Rothbaum 2022, 544]. Der Name des Cocktails könnte auch auf „Peruvian bark“ beruhen, einer Bezeichnung für Chinarinde, die wiederum auf eine Bitternote hindeuten würde.
Dies alles muss aber Spekulation bleiben, denn der Name des Cocktails kann auf irgendeiner (vielleicht humorigen) Assoziation beruhen, die nichts mit einer Herkunft seiner Zutaten oder des Rezepts aus Peru zu tun haben muss. Als möglicherweise frühestes Beispiel für einen solchen Cocktail diene der Japanese Cocktail mit Brandy, Orgeat und Bitters, der erstmalig 1862 bei Jerry Thomas abgedruckt wurde [Thomas 1862, 51]. Kreiert wurde er wohl anlässlich des ersten Besuchs einer japanischen Gesandtschaft in den USA, die mit ihrer exotischen Erscheinung einschließlich Habitus und Schwertern während des zweiwöchigen Aufenthalts in New York im Juni 1860 eine wahre Japan-Hysterie auslöste. Da sich manche der japanischen Offiziere an Cocktails gütlich getan hatten, wie die New York Times noch am 8. Oktober des Jahres berichtete, liegt es nahe, dass auch ein Japanese Cocktail kreiert wurde [Zimmermann 2019; Wondrich & Rothbaum 2022, 391]. Rein physisch betrachtet ist, wie David Wondrich sagt, „überhaupt nichts Japanisches an ihm oder in ihm“. Doch als Erinnerungsort für die japanische Gesandtschaft in New York hat der Drink seinen Platz im kollektiven Gedächtnis („Gedenk-Cocktail“ [Wondrich 2022, 363]).[13] Vor diesem Hintergrund kann letzten Endes jede denkbare Assoziation zum Namen unseres „Peruvian Cocktail“ geführt haben.
Eine weitere Auffälligkeit in Blühers Cocktail-Liste sei noch herausgehoben: Die Erwähnung eines Martini-Cocktails ist insofern bemerkenswert, als sich die heute etablierte Namensform erst in den zehn vorausgegangenen Jahren herausgebildet hatte [Wondrich & Rothbaum 2022, 443]. Offenkundig erscheint er hier als eigener Drink neben dem Martinez-Cocktail, der unlöslich mit der diffusen Entstehungsgeschichte des berühmtesten und wirkmächtigsten aller Cocktails verbunden ist. Um so erstaunlicher ist der leicht zu überlesende Zusatz bei Blüher „engl. (St.) Martin‘s“. Entsprechend der Konzeption des Buches müsste man wohl annehmen, dass der Martini bei den Engländern „St. Martin’s Cocktail“ genannt werde. Hierfür lassen sich bis dato keine weiteren Belege auftreiben. Die einzige, einigermaßen schlüssige Erklärung ist, dass hier eine englische Entsprechung des italienischen Familiennamens Martini gegeben wird. Der heilige Martin (ja, der mit dem Mantel) lebte, bevor er im Jahr 372 Bischof von Tours wurde, in seiner Jugend in Pavia in Norditalien.[14] Die Bedeutung, die der Heilige im christlichen Mittelalter hatte, lässt sich an der großen Beliebtheit seines Namens ablesen. Entsprechend ist der Name Martini die Genitiv-Form des (San) Martino, englisch entsprechend: St. Martin’s. Befriedigend ist die Erklärung nicht. Kehren wir daher zurück zu den Getränken in Blühers „Meisterwerk“ und zu den Kategorien, in die Gustav Brehme sie eingeteilt hat.
Die „Diverse drinks“ verteilen sich alphabetisch über die Spalten des Kapitels und bergen Schätze wie den Alabazam, Blue Blazer, Bosom-caresser, John und Tom Collins, Knickerbocker, Prairie Oyster (die später in Deutschland so wirkmächtig werden sollte), Prince of Wales, Stone-fence, Tom and Jerry und sogar „Jerry Thomas‘ own decanter bitters“, womit des Professors Name selbst seinen Weg in dieses Verdeutschungswörterbuch gefunden hatte. Das Rezept findet sich bereits 1862 in der Erstauflage des „Bar Tender’s Guide“ und verlangt Rosinen, Zimt, Schlangenwurzel, Zitrone, Orange, Nelken und Piment. The Bitter Truth hat seit einigen Jahren eine moderne Replik im Programm. Es liegt nahe, den Input Brehmes hinter der Auswahl der Drinks in der Liste zu vermuten. Vor diesem Hintergrund lässt sich aus der Zusammenstellung jedoch nichts ableiten, wie bekannt irgendeines dieser Getränke im Deutschland der Jahrhundertwende war.
Was sich in der stattlichen Anzahl Punsche in der Liste bereits angedeutet hat, setzt sich fort: Neben den modernen amerikanischen Drinks finden sich zahlreiche Getränke, die Blühers deutschem Lesepublikum bekannt waren, bspw. Bischöfe, Bowlen, Coolers, Cups, Glühweine, Kardinäle, Possets und Sangarees, aber auch einzelne Lieblinge von deutschen Getränkekarten der Zeit wie Chaudeau, Hippokras, Krambambuli, Negus und Scherbett. Blüher ging es unter anderem um Vollständigkeit, so dass auch recht banal klingende Getränke wie „Apfelsinen-Trank“ ihren Weg ins „Meisterwerk“ fanden. Nichtsdestotrotz dürfte die gewaltige Menge, in der American drinks vertreten sind, darauf hindeuten, dass sie Gastronomen in Deutschland nach Blühers Einschätzung tatsächlich begegnen konnten.
Herr Blüher und seine Rechtschreibung
Nachdem ihm die geplante Überarbeitung der „Rechtschreibung der Speisen und Getränke“ gewissermaßen zum „Meisterwerk“ eskaliert war, sah Blüher dennoch den Bedarf, eine zweite Auflage der „Rechtschreibung“ zu verfassen, die schließlich 1899 erschien und – wie auch das „Meisterwerk“ – mehrere weitere Neuauflagen und Nachdrucke bis in die 1930er Jahre erfahren sollte. Der erste Teil der zweiten Auflage des Buches ist ein kurzes und knapp gehaltenes Lexikon der kulinarischen und gastronomischen Fachbegriffe, das auch Einträge wie „American drinks“ oder eben „cocktail“ enthält: „Art amerik. mixed drinks“, lautet die knappe Erläuterung und als Beispiele werden Champagner-, Cider- und Gin-Cocktail aufgeführt [Blüher 1899, 69, 106]. Der Cocktail ist auch hier noch nicht zum Gattungsbegriff geworden, was der Eintrag „mixed drinks“ unterstreicht: „gemischte Getränke, bsd. die sog. »amerikanischen«, wie cobbler, cocktail, cup, flip, julep, sour usw.“[15]
Herr Schmidt aus Hamburg und Herr Johnson aus Königsberg
Woher Blüher sein Wissen bezog, legt er zumindest teilweise in seinem umfangreichen und durchstrukturierten Literaturverzeichnis offen – rühmt er sich doch bei anderer Gelegenheit, „die vorhandene Fachlitteratur der ganzen Erde“ bemüht zu haben [Blüher 1901, 4]. Neben deutschen Büchern, die noch keinen Cocktail kennen,[16] verweist er in der Rubrik „Getränk-Kunde“ auf ein französisches Buch sowie drei britische Bücher, darunter auch das oben zitierte Werk von William Terrington.[17] Insbesondere die amerikanischen Cocktailbücher von Jerry Thomas und Harry Johnson sowie beide Titel von William Schmidt (wobei Blüher nicht erkennt, dass „Fancy Drinks and Popular Beverages“ von demselben Autor stammt[18]) sind hier von besonderem Interesse. Alle aufgeführten Titel sind mit Preisen versehen, da Blüher offenbar nicht nur mit den Veröffentlichungen aus seinem eigenen Verlag Handel trieb [Blüher 1901, 764-766].
Damit liegt hier ein Beweis vor, dass man einige der wichtigsten Publikationen der amerikanischen und europäischen Cocktailkultur im Jahr 1899 in der Bücherstadt Leipzig kaufen konnte. Natürlich lässt sich fast nichts darüber sagen, wie stark die fremdsprachigen Fachbücher zirkulierten, aber die Frage, ob Deutsche in wilhelminischer Zeit grundsätzlich an zuverlässige Informationen über American mixed drinks sowie an authentische Cocktail-Rezepte aus erster Hand gelangen konnten, muss bejaht werden. Blüher weist dezidiert auf die Zweisprachigkeit des Buchs von Harry Johnson hin, dessen Titel er fälschlicherweise mit „Handbuch der Getränke“ wiedergibt, und ergänzt abschließend die Preisangabe um den lakonischen Hinweis: „Sehr beliebt.“ Leider lässt auch das keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Verbreitung des Buches in Deutschland zu, zumal gemeint sein kann, dass das Buch in seiner amerikanischen Heimat zu den Favoriten zählte.
Harry Johnson war in den Jahren vor Erscheinen der zweiten Auflage von Blühers „Rechtschreibung“ wenigstens dreimal in Europa, wobei sich nur über den dritten Aufenthalt im Jahr 1898 sicher sagen lässt, dass ihn die Reise in die deutsche Heimat führte [Miller & Brown 2013, 54 f., 60, 82]. Seit dieser Zeit lebte seine erste Frau Bertha anscheinend dauerhaft in Deutschland mit den beiden gemeinsamen Kindern. Erst ab 1903 wurden Harrys Besuche regelmäßiger und ab 1909 scheint er zudem sein Buch aktiv beworben zu haben [ebd., 84, 92]. Leider enthielt dieses seit der dritten Auflage von 1900 keinen deutschsprachigen Teil mehr. Englisch wurde zwar an höheren Schulen in Deutschland unterrichtet,[19] die Sprachkenntnisse waren jedoch bei weitem nicht so verbreitet, dass ein deutscher Text dem Absatz des Buches nicht doch zuträglich gewesen wäre. Die dritte Auflage scheint zudem auch in London durch die „Stationers’ Hall“ mitherausgegeben oder vertrieben worden.[20] Es ist denkbar, aber keineswegs belegt, dass man ihm bereits vorher mit dem Vertrieb von Resten der zweiten Auflage in Europa geholfen hat. Nachdem der Erste Weltkrieg überstanden war, schränkte die Prohibition Johnsons Geschäftstätigkeiten in den Staaten erheblich ein, so dass der europäische Markt an Attraktivität gewann. Aus dem Jahr 1913, als die Prohibitionsbefürworter in den USA bereits zu einem enormen politischen Einfluss gelangt waren, wird berichtet, dass er Übersetzungen auf Französisch, Deutsch und Niederländisch herausbringen wollte, was sich jedoch allem Anschein nach nie materialisiert hat [Miller & Brown 2013, 84]. Zuletzt kehrte er nicht mehr in die Staaten zurück und wurde 1930 auf dem Heilig-Kreuz-Kirchhof in Berlin-Tempelhof beigesetzt [ebd., 93]. Belastbare Hinweise, dass Harry Johnson selbst am Vertrieb seines Buches durch Paul Martin Blüher beteiligt war, liegen somit nicht vor.
Getränkekarten aus Bad Kreuznach und Berlin
Ein besonderer Glücksfall für die Suche nach den Anfängen der Cocktailkultur in Deutschland ist der Teil der „Rechtschreibung“, der sich aus einer Wiedergabe von Speise- und Getränkekarten aus Blühers beeindruckender Sammlung („wohl der größten ihrer Art“) zusammensetzt [Blüher 1899, 447]. Bedingt durch seine Wirkungsstätte bilden die 42 Getränkekarten einen Schwerpunkt um die geographische Mitte Deutschlands. Dabei muss es kein Zufall sein, dass Blühers Arbeits- und Lebensmittelpunkt in der blühenden Verlagsstadt Leipzig lag, die verhältnismäßig nah zu den Kulturmetropolen Dresden und Berlin lag. Leider nennt er nur die Städte, in denen sich die Lokale jeweils befanden, nicht die Adressen oder Inhaber.
In den Karten finden sich überraschend regelmäßig Liköre wie gelbe und grüne Chartreuese, Bénédictine, Curaçao oder Angostura-Bitter, die heute höchstens Cocktail-Aficionados als Zutaten ihrer Drinks geläufig sind. Ob in den urbanen Zentren oder im „Kaiser-Au“ im beschaulichen Bad Kreuznach [Blüher 1899, 559], offenbar pflegte man, sie pur zu trinken. Während bereits die Vorstellung, sich einen Shot Angostura einzuverleiben, Phantomschmerzen verursacht, wurde das exotische Elixier in zeitgenössischen Zeitungsannoncen beworben, die natürlich keinen Hehl aus seinem deutschen Erfinder Dr. Johann Gottlieb Benjamin Siegert machten.[21]
Einzelne von Blühers Karten bieten Champagner- und Sherry-Cobbler, während sich auf fast jeder von ihnen eine Auswahl an Punschen findet, stets in heißer Form, häufig alternativ auch kalt. Ebenso sind Grogs ubiquitär vertreten, bei denen man in der Regel zwischen den Basis-Spirituosen Cognac, Rum oder Arrak wählen kann. Der ursprünglich aus Indien stammende Arrak aus Palm- oder Rohrzuckersäften, der in den vorhergehenden Jahrhunderten vor allem als Punsch-Zutat geläufig war [Wondrich & Rothbaum 2022, 35-38], wird auf vielen Karten ebenfalls zum puren Genuss angeboten. Heute ist Arrak fast völlig aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden und wird erst in jüngerer Zeit im Zuge der Cocktail-Renaissance wiederbelebt. In den einschlägigen Online-Shops findet man eine Handvoll verschiedener Sorten, meistens vermittelt durch niederländische Abfüller, die Produkte aus Indonesien oder Sri Lanka vertreiben.
Die angebotenen Punsche entsprechen zumeist gewissen, wiederkehrenden Standards, wie bspw. Arrakpunsch oder Punsch Romaine. Eigene Kreationen tauchen nur ausnahmsweise und nur in Lokalen auf, deren Getränkekarte einen Schwerpunkt auf Punsche legt. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Café Bauer in Berlin, das insgesamt 16 verschiedene warme und kalte Punsche anbietet. Ein schöner Spiegel seiner Zeit ist hier insbesondere der „Königin-Carola-Punsch“, der sich offenbar zeitweise regionaler Beliebtheit erfreute. Er trug den Namen der Carola von Wasa-Holstein-Gottorp, die mit der Krönung ihres Mannes Albert 1873 zur letzten Königin Sachsens wurde. Zu dem Zeitpunkt war das Land bereits im Deutschen Reich unter Kaiser Wilhelm I. aufgegangen. Ihre Aufgaben als Königin waren daher einerseits repräsentativer Natur, andererseits machte sie sich sehr um die Versorgung Kranker und Verwundeter in Sachsen verdient.
Was den Königin-Carola-Punsch geschmacklich ausmachte oder welche Zutaten er enthielt, bleibt leider im Dunkeln. Offenbar war es jedoch nichts Ehrenrühriges für die Monarchin, dass ein alkoholisches Getränk nach ihr benannt wurde. Die Namensgebung darf eher als Ehrerbietung denn als humoristische Verballhornung verstanden werden. Benennungen zu ihren Ehren waren keine Seltenheit: Ob Brücken, Schulen, Schiffe oder der „Carolafelsen“ als höchster Punkt der Affensteine in der Sächsischen Schweiz – ein Punsch durfte da nicht fehlen.[22] Vorzugsweise um die Weihnachtszeit, wenn es kalt und festlich war, bewarb die Leipziger Liqueur- und Essenzenfabrik Hermann Hausmann ihre für den Hausgebrauch abgefüllte „Königin Carola-Punsch-Essenz“ im Leipziger Tageblatt. Um die vielseitigen Möglichkeiten der Zubereitung darzustellen, leistete sich Hausmann in der Silvester-Ausgabe 1885 sogar Platz für eine Zubereitungsanleitung mit dem Zusatz „Allerfeinster Gesellschafts-Punsch“:
„⅓ dieser Essenz mit ⅔ siedendem Wasser vermischt, gibt den feinsten und wohlschmeckendsten Punsch, welcher alle existirenden Punsch-Essenzen durch seine Lieblichkeit im Geschmack und Aroma übertrifft. Ebenso bereitet und »erkaltet« ist derselbe »als kalter Punsch« eine Specialität. Im Sommer mit Eiswasser vermischt, ergibt er eine kühlende und erfrischende Bowle. »Rein« ist derselbe als feinster »Tafel-Liqueur« zu genießen.“[23]
Das Produkt war an sich nicht sonderlich innovativ, denn die Firma musste sich den Anzeigen-Teil mit zahlreichen Anbietern von Punsch-Essenzen teilten. Anscheinend gab es einen Markt, an dem man sich durch besondere Spezialitäten zu platzieren suchte. Interessant wäre neben den Zutaten zu erfahren, ob das Berliner Café Bauer ein Markenprodukt anbot, das im Lokal mit dem Leipziger Pre-Mix als einer Art Convenience-Produkt angemischt wurde, oder ob der Königin-Carola-Punsch eine bestimmte Art von Getränk bezeichnete, das jedes Lokal von Grund auf zubereiteten konnte. Möglich ist natürlich, dass man beides vorfand: „Lass uns ins Café Bauer gehen, die machen ihren Königin-Carola-Punsch noch selbst.“
Damit zurück zu den Getränkekarten in Blühers Rechtschreibung. Auch wenn leider keine Angaben zu den Zutaten der Mischgetränke abgedruckt wurden, lassen sich einige Informationen aus den Listen ziehen. Gerade die angegebenen Preise werfen ein Licht auf die Situation um 1899. In den meisten Lokalen kostete das Glas Bier 30 Pfennig und die Flasche Moselwein konnte man sich für 1,20 Mark an den Tisch kommen lassen. Das hört sich für uns nach schlaraffenlandartigen Zuständen an, muss sich aber natürlich am Wert des Geldes zu seiner Zeit messen lassen. Umrechnungstabellen, die bspw. sagen, eine Mark des Deutschen Kaiserreichs von 1900 entspräche heute 7,70 Euro, geben kein verlässliches Bild, da viele Faktoren bei so einem Vergleich einbezogen werden müssen.[24] Gleichwohl lassen sich die Preise der verschiedenen Getränke gut untereinander vergleichen, bspw. kostete ein Glas Punsch 50 bis 60 Pfennig. Ein Sherry-Cobbler kostete 1,- Mark und in der Champagner-Variante kostete der Cobbler sogar 1,50 Mark – genauso viel wie ein Whiskey- oder Brandy-Cocktail im Café Bauer (wo der Königin-Carola-Punsch stolze -,75 Pfennig kostete).
Unter den Lokalen, deren Karten Blüher abgedruckt hat, sind zum größten Teil keine Meilensteine für die Geschichte der Cocktailkultur in Deutschland zu finden. Das Theater-Café in Leipzig, das neben den üblichen Punschen und Grogs immerhin mit einem Sherry-Cobbler für -,75 Pfennig sowie einem Champagner-Cobbler für 1,- Mark aufwarten kann, ist leider nicht mit der American Bar im Centraltheater Leipzig zu identifizieren, die in Seutters „Mixologist“ abgebildet ist [Seutter 1909, 3]. Das Centraltheater, an dessen Stelle seit 1957 das Schauspielhaus steht, nachdem es 1943 im Krieg zerstört worden war, wurde erst 1902 in einem eigens errichteten Gebäude eröffnet.
Während es in sechs weiteren der abgedruckten Karten verschiedene Cobbler gibt, führt neben dem Café Bauer nur ein weiteres Lokal „Cocktails“: die Union-Bar in Berlin. Hier konnte man schon für -,75 Pfennig einen Cocktail bekommen, hatte aber auch die Option, 2,- Mark für einen Prince of Wales auszugeben. Die Getränke-Karte steht mit ca. 70 Mixed Drinks manch einer modernen Cocktailbar in nichts nach. Sortiert nach Gattungen finden sich elf Cocktails, acht Specials (bspw. John Collins, Knickerbocker oder Santinas pousse café), jeweils drei Sours, Smashes und Lemonades, je fünf Sangarees, Cobblers, Fizzes und Juleps, neun Flips sowie 14 „Punches“. Die Bezeichnungen sind fast durchgehend auf Englisch gehalten (daher nicht „Punsche“) und suggerieren uns wie dem zeitgenössischen Publikum einen amerikanischen Einfluss.
Eröffnet wurde die Bar in der Französischen Straße 50 im Erscheinungsjahr von Blühers „Rechtschreibung“. Wir blicken also auf die druckfrische Karte, mit der sich die Union-Bar erstmalig dem Berliner Publikum präsentierte. Die Auswertung der angebotenen Getränke lässt erkennen, woher der Barchef seine Inspirationen zog – was neben New Yorker auch nach London weist. Die Union-Bar ist im Unterschied zu anderen Lokalen, die Blüher präsentiert, durch weitere, auch literarische Quellen fassbar, so dass klar ist, dass es sich um eine eigenständige Bar handelte, die weder einem Hotel noch einer anderen Gastronomie untergeordnet war – möglicherweise die erste ihrer Art in Deutschland. Da es Einiges zur Union-Bar zu sagen gibt, wird ihr ein eigener Beitrag in diesem Blog gewidmet sein. Blüher jedenfalls nahm ihre Getränkekarte nicht zum Anlass, die Getränkeliste in seinem „Meisterwerk“ um Drinks aus der Union-Bar zu erweitern.
Schluss
Die Freude an Katalogen, Nachschlagewerken und Listen, aus der die preußische Beamtenseele spricht, muss auch vor dem Hintergrund der großen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Die Auflösung der Ständegesellschaft, die eines jeden Werdegang durch seine Abstammung festlegte, wurde im Zeitalter der Revolutionen und der Industrialisierung abgelöst durch eine Bürgergesellschaft, in der es theoretisch jeder zu etwas bringen konnte. Dadurch erhielt Bildung einen ganz neuen Wert und das „Bildungsbürgertum“ entstand. Demgegenüber sah man verkrustete gesellschaftliche und politische Strukturen eng verknüpft mit den herkömmlichen europäischen Monarchien. Die Willkür und Selbstgerechtigkeit der Könige und Fürsten suchte man durch ein politisches Konstrukt zu überwinden, das bis heute als verfasster Nationalstaat Bestand hat. Die revolutionären Erscheinungen im Deutschland der Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Märzrevolution 1848 brachten nicht die gewünschten Veränderungen. Nichtsdestotrotz hatte keiner der deutschen Staatenbünde, die in der Regel unter preußischer oder österreichischer Vorherrschaft existierten, dauerhaft Bestand. So kam es 1871 in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges zur Gründung eines Deutschen Reiches unter einem Kaiser.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und aus einem neugewonnenen Selbstverständnis heraus, dass einerseits auf die Nation und andererseits auf die Bildung als erstrebenswerte Güter setzte, muss man wohl auch die Werke Paul Martin Blühers sehen. In seinen lexikographischen Werken zur Kulinarik bietet er dabei eine beeindruckende Menge an Hinweisen auf Cocktails. Obwohl so gut wie keine Angaben zu Rezepturen, Herkunft oder tatsächlicher Anwendung gemacht werden, wird uns ein Blick auf die erwachende Cocktailkultur in Deutschland gewährt.
Anmerkungen
[1] Blüher 1888, 137 f. Das Verkaufsinserat eines Online-Antiquariats enthielt Fotos des Inhaltsverzeichnisses in niedriger Auflösung und schlechter Qualität, die jedoch die angegebenen Informationen entziffern ließen.
[2] Dass die Erstauflage von 1896 bereits diesen Abschnitt mit dem gleichen Titel enthielt, lässt sich anhand der Einträge in den Bibliothekskatalogen ablesen. Diese bieten auch die Information, dass die Erstauflage nur sieben Seiten kürzer war als die zweite Auflage von 1898 und die vorliegende dritte von 1901. Bei einem Gesamtvolumen von über 2.000 Seiten besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das VII. Kapitel im Wesentlichen bereits in der einsehbaren Form der dritten Auflage vorlag.
[3] Art. Hermann (Missouri), in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_(Missouri), Abruf am 31.08.2023.
[4] The Montauk Club, 125-Year Milestones, 02.08.2014, https://montaukclub.com/milestones, Abruf am 27.08.2023.
[5] Naval and Military Gazette, London, 3.7.1869, 10; vgl. Wondrich & Rothbaum 2022, 722.
[6] Zu Terringtons Cocktail-Rezepten vgl. Zimmermann 2017; Daun 2022, 94-97.
[7] Die beiden heute erhältlichen Produkte mit dem Namen „Calisaya“ scheiden jedenfalls aus: ein „Vino Aromatizzato alla China“ aus dem Piemont (Rovero) und ein Chinarinden-Orangen-Likör aus Oregon (Elixir Craft Spirits).
[8] Art. Charles Ledger, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, https://en.wikipedia.org/wiki/Charles_Ledger, Abruf am 27.08.2023.
[9] Art. Detroit Athletic Club, in: Difford’s Guide, https://www.diffordsguide.com/cocktails/recipe/2924/detroit-athletic-club, Abruf am 27.08.2023.
[10] https://www.courvoisier.com/heritage, Abruf am 27.08.2023.
[11] https://scotchwhisky.com/magazine/whisky-heroes/14768/andrew-and-john-usher/
[12] S. E. Ledesma, Nuevo Manual de Cocina de la Criolla: Comida, 1903.
[13] Wondrich 2022, 263. Wie Armin Zimmermann überzeugend dargestellt hat, wurde der Cocktail jedoch nicht durch Jerry Thomas erfunden [Zimmermann 2019]. Was die kollektive Erinnerung an die japanische Gesandtschaft angeht, wird man davon ausgehen müssen, dass die organische Verbindung des Japanese Cocktail mit dem Ereignis mit seiner ohnehin mäßigen Beliebtheit verblasste. Das mit dem Cocktail-Revival wieder erwachte Interesse an historischen Rezepten macht ihn aus entgegengesetzter Stoßrichtung wieder zu einem Kristallisationspunkt jener Erinnerung (wie diese Zeilen beweisen).
[14] Sulpicius Severus, Vita Sancti Martini; vgl. Otto Hiltbrunner, Martinus 2., in: Der kleine Pauly 3, München: dtv 1979, 1056 f.
[15] Blüher 1899, 193. Die genannten Beispiele sind jeweils mit kurzen eigenen Einträgen versehen, die auf „mixed drinks“ zurückverweisen.
[16] Titel, die nicht exklusiv Wein- oder Spirituosenfertigung zum Gegenstand haben: Eduard Gressler, Anleitung und Recepte zur Anfertigung aller Arten moussirender Luxusgetränke mittelst selbstentwickelter und flüssiger Kohlensäure, 3. Aufl., Halle: Hofstätter 1891; Anselm Josti, Die Bereitung warmer und kalter Bowlen und punschähnlicher warmer und kalter Getränke, 3. Aufl., Weimar: B. F. Voigt 1885; C. F. B. Schedel, Praktische und bewährte Anweisung zur Destillierkunst und zur Fabrikation der Liköre und Aquavite, der doppelten und einfachen Branntweine, Spirituosen- und Luxus-Getränke, 4. Aufl., Weimar: B. F. Voigt 1852; Charlotte Wagner, Das Buch der Getränke. Gründliche, allgemein faßliche Anleitung zur vorteilhaften Bereitung von 500 warmen und kalten Getränken, wie Kaffee, Thee, Chokolade, Cacao, Punsch, Grog, Bowlen, Maitrank, Kaltschalen, Limonaden, Fruchtsäfte und -Essige, Essenzen, Liqueure, Weine, Gefrornes, Erfrischungen aller Art. Zum Gebrauch für Haushaltungen aller Stände, sowie für Gastwirthe, Conditoren und Restaurateure, 5. Aufl., Berlin: Mode Verlag 1894.
[17] Niels Larsen, Boissons américaines, Paris: Nilsson 1899; William Terrington, Cooling Cups and Danty Drinks, London: Routledge 1869 [Terrington 1869] bzw. 1872; Bacchus & Cordon Bleu, New Guide for the Hotel, Bar, Restaurant and Chef, London: William Nicholson & Sons 1885; Mrs de Salis, Drinks à la Mode. Coups and Drinks of Every Kind for Every Season, London: Longman’s, Green & Co. 1891.
[18] Von William Schmidt ist bekannt, dass er 1889 seine betagten Eltern in Hamburg besuchte, als sein Buch noch nicht vorlag [Miller & Brown 2013, 24]. Das Auftauchen seiner Bücher in Blühers Liste lässt sich also nicht auf eine persönliche Vertriebstätigkeit zurückführen.
[19] Friederike Klippel, Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrichtsmethoden, Münster: Nodus 1994, 287 ff., https://epub.ub.uni-muenchen.de/8653/1/8653.pdf, Abruf am 28.08.2023. Vgl. auch Philip Eins, Vor 125 Jahren. Einwanderungsbehörde auf Ellis Island öffnet, Deutschlandfunk, 01.01.2017, https://www.deutschlandfunk.de/vor-125-jahren-einwanderungsbehoerde-auf-ellis-island-100.html , Abruf am 28.08.2023.
[20] Johnson 1900, 4. Vielen Dank an Armin Zimmermann für den freundlichen Hinweis.
[21] Bspw. Beiblatt der fliegenden Blätter Nr. 3016, München, 15. Mai 1903, S. 20, URL: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/fb_bb118/0449/image,info, Abruf am 30.06.2023.
[22] Carola hatte eine besondere Verbindung zu Punsch, die ins 17. Jahrhundert zurückreicht (die jedoch zufällig und bis dato unbemerkt sein dürfte): Als geborene Prinzessin von Wasa-Holstein-Gottorp war sie eine direkte Nachfahrin Friedrichs III. von Schleswig-Holstein-Gottorf, der 1636 eine Gesandtschaft nach Persien geschickt hatte. Aus dem Reisebericht des Johann Albrecht von Mandelslo stammen die berühmten frühesten Angaben über die Zusammensetzung von Punsch („Palepuntzen“) [Ronnenberg 2023].
[23] Leipziger Tageblatt, 31.12.1885, 7346, https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/300116/10, Abruf am 29.08.2023
[24] Deutsche Bundesbank, Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen, 15.03.2023, https://www.bundesbank.de/de/statistiken/konjunktur-und-preise/-/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-615162, Abruf am 29.08.2023.
Quellen & Literatur
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Blüher 1899 = Paul Martin Blüher, Rechtschreibung der Speisen und Getränke. Alphabetisches Fachlexikon. Französisch-Deutsch-English (und andere Sprachen) (Blühers Sammel-Ausgabe von Gasthaus- und Küchen-Werken, Band 26), 2. Aufl., Leipzig: Paul M. Blüher 1899, https://archive.org/details/b21504696, Abruf am 29.08.2023.
Blüher 1901 = Paul Martin Blüher, Meisterwerk der Speisen und Getränke. Französisch – Deutsch – Englisch (und andere Sprachen) (Blühers Sammel-Ausgabe von Gasthaus- und Küchen-Werken, Band 22 und 23), 3. Aufl., Leipzig: Paul M. Blüher 1901, https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/91483/1, Abruf am 29.08.2023.
Craddock 1930 = Harry Craddock, The Savoy Cocktail Book, London: Constable & Co. 1930, https://euvs-vintage-cocktail-books.cld.bz/1930-The-Savoy-Cocktail-Book, Abruf am 02.09.2023.
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Daun 2022b = Gabriel Daun, Back to Basics 6: Modern im wahrsten Sinne, in: Mixology. Magazin für Barkultur 6/2022, 90-93.
Haigh 2020 = Ted “Dr. Cocktail” Haigh, Vintage Spirits and Forgotten Cocktails. Prohibition Centennial Edition: From the 1920 Pick-Me-Up to the Zombie and Beyond – 150+ Rediscovered Recipes … With a New Introduction and 66 New Recipes, Beverly, MA: Quarry 2020.
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Wondrich 2005 = David Wondrich, Killer Cocktails. An Intoxicating Guide to Sophisticated Drinking, New York: HarperResource 2005.
Wondrich 2022 = David Wondrich, Imbibe! „Professor“ Jerry Thomas und die Anfänge der American Bar, Übers. Martin Stein, Regensburg: Kartaus 2022.
Wondrich & Rothbaum 2022 = David Wondrich & Noah Rothbaum, The Oxford Companion to Spirits & Cocktails, New York: Oxford University Press 2022.
Zimmermann 2017 = Armin Zimmermann, Vom Ursprung des Cocktails. Teil 4: Historisch interessante Rezepte, in: Bar-Vademecum. Wissenswertes für Bildungstrinker, 15.10.2017, http://bar-vademecum.de/vom-ursprung-des-cocktails-4/, Abruf am 29.08.2023.
Zimmermann 2018 = Armin Zimmermann, East Village Athletic Club Cocktail, in: Bar-Vademecum. Wissenswertes für Bildungstrinker, 27.05.2018, https://bar-vademecum.de/east-village-athletic-club-cocktail/, Abruf am 29.08.2023.
Zimmermann 2019 = Armin Zimmermann, Japanese Cocktail, in: Bar-Vademecum. Wissenswertes für Bildungstrinker, 23.06.2019, https://bar-vademecum.de/japanese-cocktail/, Abruf am 23.08.2023.