Wie schreibt man eigentlich „Cocktail“? Deutsche Lexika des 19. Jahrhunderts (Teil 1 von 2)

Die Entstehung der Cocktailkultur in Deutschland

[English version]

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich „Cocktail“ zunehmend als Eintrag in deutschen Lexika. — „Cocktail“ wurde im Englischen als aus der Pferdezucht übertragener Begriff auch abwertend für Menschen genutzt, die vorgeben, etwas Besseres zu sein. — Die Anfänge der Cocktailkultur in Deutschland sind eng mit der deutschen Auswanderung in die USA verbunden. Der Austausch fand in beide Richtungen statt. — Der Begriff „Cocktail“ war in Deutschland Gegenstand sprachlichen und kulinarischen Interesses auf der einen, eines nationalistisch geprägten Sprachpurismus auf der anderen Seite. — Der Cocktail scheint bis ins späte 19. Jahrhundert lediglich literarisch vermittelt gewesen zu sein, Hinweise auf tatsächlich in Deutschland getrunkene oder zubereitete Cocktails finden sich in den Lexika zunächst nicht.

Während man Ende des 19. Jahrhunderts noch weit davon entfernt war, ein Cocktailbuch aus Deutschland in die Hand nehmen zu können, hatte der Cocktail Einzug in eine ganz eigene Literaturgattung genommen: das Lexikon. Kaum eine Textform mag der preußischen Beamtenseele so entgegengekommen sein, so dass eine blühende lexikographische Landschaft entstand, die sich auf die verschiedensten Themen mit den unterschiedlichsten Zielsetzungen stürzte. Ihre prominenten Vertreter haben sich teilweise bis heute ins kollektive Gedächtnis gebrannt: 1812 erschien der erste Band des „Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände“, das im 20. Jahrhundert unter dem Namen seines Herausgebers Friedrich Arnold Brockhaus zu einem Statussymbol des Bildungsbürgertums avancieren sollte (bitte in Ledereinband). Ähnliches gelang Carl Joseph Meyer ab 1840 mit seinem „Großen Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände“, das heute in der grell-orangen Taschenbuchausgabe von 1981 als „Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden“ die Flohmärkte ziert. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm hatten neben dem Sammeln von Märchen auch Zeit, 1852 die erste Lieferung ihres etymologisch ausgerichteten „Deutschen Wörterbuchs“ zu veröffentlichen. Der letzte und 130. Band des so genannten „Grimmschen Wörterbuchs“ wurde erst 1961 abgeschlossen.

Sprachwissenschaften: Der Cocktail in der deutschen Anglistik

Neben diesen prominenten Beispielen erschienen spezialisierte Lexika, die der kleineren Zielgruppe entsprechend weniger Verbreitung fanden. So konnte die Anglistik in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts zwar auf eine gewisse Tradition zurückblicken seit der Einrichtung des ersten Lehrstuhls für englische Sprache 1737 in Göttingen, wurde aber wie so viele Fachrichtungen außerhalb der Welt der Wissenschaft nur wenig wahrgenommen. 1861 brachte der Philologe Ludwig Herrig in seiner in Braunschweig erscheinenden Fachzeitschrift „Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen“ folgenden Eintrag in der Artikelserie „Beiträge zur englischen Lexikographie“ [Herrig 1861, 118]:

cocktail, a disparaging expression, perhaps taken from horses. Macm. Mag. Dec. 1859 p. 101. But servitors are gentlemen , I suppose? — a good deal of the cock-tail about them , I should think. — a c.[ocktail] = brandy, bitters and sugar, Austr. Fowler S. L. p. 53.

Von der Freude an Abkürzungen darf man sich nicht entmutigen lassen. Für unsere Betrachtungen ist zunächst die zweite angegebene Bedeutung ausschlaggebend, die den Cocktail in verkürzter Form nach seinen Hauptbestandteilen recht zutreffend erklärt. Die Definition entstammt dem Buch „Southern Lights and Shadows“ des britischen Schriftstellers Frank Fowler von 1859, in dem er u.a. von den Trinkgewohnheiten der Einwohner Sydneys berichtet. An der zitierten Stelle gibt er ähnlich knappe Definitionen für ein ganzes Dutzend gemischter Getränke, darunter Julep, Smash und Spider [Fowler 1859, 53]. Der Bezug zu Amerika fehlt sowohl bei Fowler als auch in dem zitierten Beitrag zur englischen Lexikographie, der den Cocktail als australisch ausweist.

Was die primär angegebene Bedeutung angeht, überrascht vielleicht, dass „cocktail“ als abwertender Begriff für eine Person gebraucht werden konnte. In der als Referenz angegebenen Kurzgeschichte „Tom Brown at Oxford“ von Thomas Hughes, die 1860 im Macmillan’s Magazine erschienen war, geht es um Stipendiaten („servitors“) an der Universität, die sich angeblich für etwas Besseres hielten [Hughes 1860, 101]. Der Text war eine Fortsetzung seiner erfolgreichen Novelle „Tom Brown’s School Days“ von 1857, die uns in der Folge begegnen wird. „Thieme-Magnusson. Neues praktisches Taschenwörterbuch der englischen und deutschen Sprache“ von 1866 gibt sogar als ausschließliche Bedeutung von Cocktail an: „Blendling; ungehobelte Mensch[Wessely 1866, 52]. Diese Verwendung hat sich im englischen Sprachgebrauch letztlich nicht durchgesetzt.[1] Der Begriff für ein Mischlingspferd, dem man zwecks eleganterer Haltung zu einem cock-tail verhalf, indem man den Schweif kürzte und schlimmstenfalls sogar eine geschälte Ingwer-Knolle im Anus des armen Tieres platzierte, war demnach metaphorisch auf Personen übertragen worden.

Als ernstzunehmender Anglist in Deutschland musste man sich zu helfen wissen, um gutes British English von der degenerierten amerikanischen Variante unterscheiden zu können. Zu diesem Zweck brachte Dr. Friedrich Köhler ebenfalls 1866 sein „Wörterbuch der Americanismen“ im Reclam-Verlag heraus. Neben Bombo, Cobbler und Julep wird der Cocktail mit folgender Erklärung als Amerikanismus aufgeführt [Köhler 1866, 30]:

Getränk aus Korn- oder Wachholderbranntwein, Zucker und ein wenig Wasser.

Kornbranntwein wird kaum den deutschen Korn bezeichnen und Wodka kann ebenfalls nicht gemeint sein. Eine Übersetzung von Whiskey als Destillat auf Getreidebasis wäre denkbar, aber zum einen kennt Köhler Whiskey (bspw. im Artikel „Julep“). Zum anderen ist das Buch im Wesentlichen eine verkürzte Übersetzung der dritten Auflage von John Russell Bartlett’s „Dictionary of Americanisms. A Glossary Of Words And Phrases“ aus dem Jahr 1860. Dort heißt es zur Erläuterung des Cocktails [Bartlett 1860, 90]: „A stimulating beverage, made of brandy or gin, mixed with sugar and a very little water.“ Vermutlich ist ein Flüchtigkeitsfehler die schlüssige Erklärung. Immerhin findet sich hier Köhlers „Wachholderbranntwein“ wieder in Form von Gin. Leider hat er Bartletts Eintrag zu „Liquor“ nicht in sein Buch übernommen, da sich dort eine Liste mit fast 60 Drinks findet, die „in fashionable bar-rooms in the United States“ serviert wurden, darunter diverse Juleps, Cobblers, Punches und Drinks wie „I.O.U.“, „Knickerbocker“ und eben der „Cocktail“ [ebd., 246].

Im Berliner Verlag G. Langenscheidt, dessen Name noch zum Begriff schlechthin für Fremdsprachen-Wörterbücher werden sollte, erschien 1871 ein „Englisch-deutsches Supplement-Lexikon“ unter der Ägide des Gymnasiallehrers Dr. Adalbert Hoppe. In seiner Einleitung beklagt er, dass die bestehenden Wörterbücher Lücken aufwiesen, die er mit seinem Band schließen wolle. In den vier Spalten, die Hoppe zu „Cock.“ zu ergänzen hat, findet sich dann auch das Kompositum mit „-tail“, um das es hier geht. Der Eintrag ist mit seinen Abkürzungen kaum lesbar, sei aber wegen der beachtlichen Menge des gebotenen Stoffs mit neun Belegstellen in voller Länge zitiert [Hoppe 1871, 78 f.]:

Cocktail, s. (kŏk-tēl) »the half-bred English hunter«. R. L. L. p. 341: the gallant, impatient, foaming, champing, space-devouring, curveting Cocktail. — M. M. Dec. 1859, p. 101: »but servitors are gentlemen, I suppose?« — »A good deal of the Cock-tail about them, I should tink« [sic]. — Str. giebt: Th. Hood, Tylney Hall c. 10: one begins his course on a Cocktail, another on a galloway. — In Australien: a cocktail = brandy, bitters, and sugar. F. S. L. p. 53. In Amerika Getränk aus Pfeffermünz. Cooper. the Spy p. 181. — Marryat, Diary in America c. 7. — T. Br. p. 109: Here, Bill, drink some Cocktail (hier, wo es die Schulknaben trinken und dem porter anbieten, kaum ein Getränk aus gebranntem Wasser).

Zunächst geht es um die Bezeichnung „cocktail“ für Halbblüter in der Pferdezucht. Dem Zitat fehlt die Quellenangabe, weil bereits Herrig in einem Nachtrag von 1861 (aus dem Hoppe sich hier bedient) auf handschriftliche Notizen eines Kollegen verweisen musste [Herrig 1862, 348]. Die Formulierung stammt aus einem vielbeachteten Artikel von Charles James Apperley aus dem Jahr 1832 in der Quarterly Review [Apperley 1832, 221; Übers. d. Verf.]:

True it is that at the present time, every Leicestershire hunter is not thorough-bred; but what is termed the cock-tail, or half-bred horse of this day, is a very different animal from that of a hundred years back. […] Mares of this variety put to thorough-bred stallions, and their produce crossed with pure blood, create the sort of animal that comes now under the denomination of the half-bred English hunter, or cock-tail.

Es ist wahr, dass heutzutage nicht jeder Hunter aus Leicestershire reinrassig ist; aber das, was man heute als Cocktail oder Halbblut-Pferd bezeichnet, ist ein ganz anderes Tier als vor hundert Jahren. […] Stuten dieser Sorte, die mit reinrassigen Hengsten gepaart werden, und deren Erzeugnisse mit reinem Blut gekreuzt werden, bringen die Art von Tier hervor, die heute unter der Bezeichnung Halbblut-Hunter oder Cocktail bekannt ist.

In dem Text geht es um Hunter-Pferde, eine Gebrauchskreuzung aus dem 18. Jahrhundert, die vor allem beim Jagdreiten verwendet wird. Die Details der Pferdezucht müssen uns nicht interessieren. Offenbar wird jedoch, dass der Cocktail zumindest in der englischen Reiterei kein Exot, sondern ein geläufiger Begriff war. Hoppe unterfüttert dies mit einem kurzen Zitat aus Charles Reades 1959er Novelle „Love Me Little, Love Me Long“ über ein offenbar recht wildes Pferd, auf dem Lucy Fountain, die Hauptfigur der Erzählung, einen Ausritt macht („R. L. L.“) [Reade 1859, 353]. Es folgt das bereits von Herrig bekannte Hughes-Zitat aus dem Macmillan’s Magazine über anmaßende Stipendiaten („M. M.“) [Hughes 1860, 101]. Auch die folgende literarische Referenz, die aus Thomas Hoods Roman „Tylney Hall“ von 1834 stammt, bezieht sich auf ein Pferd [Hood 1834, 103], das in der deutschen Übersetzung des Buches von 1842 durch Robert Grant mit „Karrengaul“ wiedergegeben wurde [Hood 1842, 100]. Den Hinweis hat Hoppe aus Franz Heinrich Strathmanns „Beiträge zu einem Wörterbuche der Englischen Sprache“ von 1855 übernommen („Str.“) [Strathmann 1855, 112]. Doch genug zu Pferden und Schnöseln.

Zum Getränk aus „brandy, bitters, and sugar“ verweist Hoppe ebenfalls wie Herrig auf Fowlers „Southern Lights and Shadows“ von 1859 („F. S. L.“) [Fowler 1859, 53] und betont völlig richtig, dass der Text australische Verhältnisse wiedergibt. Skurril mutet indes an, dass er im Folgenden den Unterschied zum amerikanischen Cocktail herausstellt, der ein „Getränk aus Pfeffermünz“ sei. Mit den Cocktailbüchern, die bei Erscheinen des Supplement-Lexikons im Jahr 1871 vorlagen, lässt sich die Bemerkung nicht in Einklang bringen, da sie kein Cocktail-Rezept mit Minze bieten. In dem Roman „The Spy. A Tale of the Neutral Ground“ von James Fenimore Cooper, den Hoppe hier referenziert, geht es um die unter Mixographen berühmte Stelle über die kernige Wirtin Betty Flanagan, die den Cocktail 1780 während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs in Four Corners, das mit dem heutigen Elmsford, New York, identifiziert wird, erfunden haben soll. Das Buch stammt von 1821 und ist damit fast vier Jahrzehnte älter als Jerry Thomas‘ „Bar Tender’s Guide“. Es gilt als der erste Roman der amerikanischen Literatur, der in den just gegründeten Vereinigten Staaten spielt und zu internationaler Anerkennung kam. Die ersten Übersetzungen erschienen bereits wenige Jahre später.[2] In der deutschen Fassung von Carl Kolb aus dem Jahr 1841 lautet die fragliche Stelle wie folgt [Cooper 1822, 237 bzw. Cooper 1841]:

Added to these, Betty had the merit of being the inventor of that beverage which is so well known, at the present hour, to all the patriots who make a winter’s march between the commercial and political capitals of this great state, and which is distinguished by the name of »cock-tail.« Elizabeth Flanagan was peculiarly well qualified, by education and circumstances, to perfect this improvement in liquors, having been literally brought up on its principal ingredient, and having acquired from her Virginian customers the use of mint, from its flavor in a julep to its height of renown in the article in question.

Hiezu kommt noch, daß Betty das Verdienst hatte, die Erfinderin jenes Getränkes zu seyn, welches bis auf die gegenwärtige Stunde allen Patrioten, welche eine Winterreise zwischen den Haupt- und Handelsstädten dieses großen Staates machen, unter dem bezeichnenden Namen Cocktail (Hahnenschwanz) bekannt ist. Elisabeth Flanagan war sowohl durch ihre Erziehung, als durch andere Umstände ausgezeichnet geeignet, diese Verbesserung des Branntweins in höchster Vollkommenheit in’s Werk zu setzen, denn einmal war sie buchstäblich in fleißiger Benützung des Hauptbestandtheils ihrer Erfindung aufgewachsen, und dann hatte ihre Bekanntschaft mit den Virginiern sie auf den Wohlschmack, welchen die Münze den Kühltränken verleiht, aufmerksam gemacht, wodurch sie in den Stand gesetzt wurde, durch eine weise Verbindung dieser Elemente den fraglichen Artikel erst recht zu seiner Berühmtheit zu bringen.

Erfreuen wir uns kurz daran, dass der „Cocktail“ in einem deutschen Buch bereits 1841, also vierzig Jahre vor Harry Johnson, als Getränk Erwähnung findet. Die einzige ältere Übersetzung, die zu bekommen war, bietet „Hahnenschwänzel“ ohne Wiedergabe der englischen Vokabel [Cooper 1826, 80]. Der Julep ist bekannt und auch der Umstand, dass die Mint-Variante ihren Ursprung in Virginia hat, hat Cooper richtig wiedergegeben [Wondrich & Rothbaum 2022, 398]. Es wäre nun ein Leichtes, den Kopf darüber zu schütteln, dass er die Minze („Münze“) von dem einen auf das andere übertragen hat, und noch mehr darüber, dass Hoppe diese Episode aus einem Roman als historische Quelle für sein Lexikon behandelt hat.

Das ist methodisch sicher nicht sauber, aber David Wondrich hat gezeigt, dass die Figur Betty Flanagan möglicherweise ein historisches Vorbild hat. Bereits in den 1870ern hatte die amerikanische Presse eine lokale Tradition, aus Lewiston, New York, ca. 630 km nordwestlich von Elmsford aufgegriffen, die Coopers Romanwirtin mit einer Catherine „Kitty“ Hustler identifizierte. Diese hatte 1777 in Philadelphia ihren Mann Thomas geheiratet, der bis 1802 in der Kontinentalarmee für die Unabhängigkeit von der britischen Krone kämpfte. Danach waren beide an der Gründung der Ortschaft Lewiston am Ufer des weit entfernten Niagara-Flusses beteiligt und betrieben dort eine Taverne. Möglicherweise hat Cooper dort 1809 übernachtet, als er Teil einer Expedition unter Kapitän M. T. Woolsey auf dem Lake Ontario war, Jahre bevor er begann, „The Spy“ zu schreiben.

Es ist leider nicht bekannt, was Kitty Hustler zwischen 1777 und 1802 tat oder wo sie sich aufhielt. Aber da Philadelphia von September 1777 bis Juni 1778 durch britische Truppen besetzt war (vor denen man währenddessen die berühmte Liberty Bell versteckte), könnte sie ins 200 km nördlich gelegene Elmsford ausgewichen sein und dort genauso wie Betty Flanagan im Roman eine Taverne betrieben haben. So wäre Kitty erst mit einer Zwischenstation an den Niagara-Fluss gekommen. Tatsächlich weisen viele frühe Cocktail-Referenzen ins Hudson Valley, in dem auch Elmsford liegt. Minze als Zutat ist anderweitig zwar nicht belegt, aber andererseits unterlag der Cocktail nicht sofort den strengen Regeln, die wir bei Jerry Thomas 1862 ausgeprägt finden. Zudem bleibt Cooper bei der historischen Wahrheit, wenn er den Mint Julep mit Virginia assoziiert. „In short, Catherine Hustler’s role in, if not creating, then naming and propagating the cocktail cannot be ruled out” [Wondrich & Rothbaum 2022, 283]. Allerdings fehlen auch jegliche Beweise, dass frühe Cocktails Minze enthielten, dass Kitty Hustler je im Hudson Valley eine Taverne betrieben hat oder auch dass James Fenimore Cooper jemals bei ihr übernachtet hat.

Beenden wir den Besuch bei Betty Flanagan und kommen zurück zum Ausgangspunkt, dem Eintrag in Hoppes Englisch-deutschem Supplement-Lexikon. Der Amerika-Reisebericht des englischen Marineoffiziers und Schriftstellers Frederick Marryat aus dem Jahr 1839, der bereits 1845 in deutscher Übersetzung erschien, wird hier in einem eigenen Beitrag zu Cocktails in deutschen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts zur Sprache kommen. Der Umstand, dass sich Marryat „ihrer wahrhaftig nicht erinnern“ kann, sagt vielleicht doch etwas über Cocktails aus [Marryat 1845, 77 bzw. Marryat 1839, 32]. Hoppes Eintrag schließt mit einem Verweis auf Thomas Hughes‘ Debut-Novelle „Tom Brown’s School Days“ aus dem Jahr 1857 („T. Br.“). Der Text über die Abenteuer eines Jungen an der Rugby School in Warwickshire war sehr erfolgreich, wurde mehrfach verfilmt und international als Schullektüre für den Englisch-Unterricht aufgelegt, so auch 1863 durch Dr. A. Riedl für deutsche Schüler. In der zitierten Szene feiern die Jungen mit ausgelassenen Gesängen ihr gewonnenes Rugby-Spiel, als sie Bill, dem Hilfspförtner des Schulhauses, einen Cocktail anbieten, damit er die Tische noch nicht wegräumt [Hughes 1863, 109; Übers. d. Verf.]:

»Here, Bill, drink some cocktail.« »Sing us a song, old boy.« »Don’t you wish you may get the table?« Bill drank the proffered cocktail not unwillingly, and putting down the empty glass, remonstrated. »Now gentlemen, there’s only ten minutes to prayers, and we must get the hall straight.«

»Hier, Bill, trink etwas Cocktail.« »Sing uns ein Lied, alter Junge.« »Wünschst du dir nicht, den Tisch zu bekommen?« Bill trank den angebotenen Cocktail nicht widerwillig aus und stellte das leere Glas unter Protest ab. »Nun meine Herren, es sind nur noch zehn Minuten bis zum Gebet und wir müssen den Saal in Ordnung bringen.«

Offenbar kann sich Hoppe Alkohol nicht in Kinderhänden vorstellen und auch Riedl gibt nicht mehr als „eine Art Getränk“ als Erklärung [Hughes 1863, xlii]. Zum einen sagt der Text nicht, dass die Kinder selbst trinken, so dass nur die Frage bleibt, wie sie an den Alkohol gekommen wären. Zum anderen muss es im England der 1830er, in denen das Buch spielt, noch keine Selbstverständlichkeit gewesen sein, dass Kinder keinen Alkohol bekamen. Warum dann einen Cocktail? Der Text von 1857 bleibt ein wenig dunkel an dieser Stelle, soll uns aber bei den Beobachtungen zu Cocktails in deutschen Lexika nicht weiter aufhalten.

Kulinarik: Der Cocktail in Lexika der Küche und Gastronomie

Natürlich wurde auch der Gegenstand hinter dem Wort „Cocktail“ gesehen und als (Rand-)Phänomen der Kulinarik lexikographisch ausgewertet. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive hatte Johann Riem bereits 1803 „Die Getränke der Menschen“ katalogisiert, war damit aber wohl zu früh, um von einem Cocktail auch nur gehört zu haben. Odo Staab erfand 1807 sogar einen eigenen Begriff für die Wissenschaft der Getränke (der sich leider nicht durchsetzen konnte) und veröffentlichte seine „Potographie, oder Die Beschreibung der Getränke aller Völker in der Welt“. Die Vorsilbe „Poto-“ entspricht dabei dem altgriechischen ποτόν, „Getränk“, lateinisch potio, englisch „potion“. Leider bringt uns der schöne Begriff in Staabs Buch dem Cocktail auch nicht näher als bis zum Julep, der als alkoholfreies Getränk persischer Herkunft vorgestellt wird [Staab 1807, 83 f.].

Der lexikographische Output aus der engen potographischen Perspektive – um den Begriff einmal benutzt zu haben – kam jedoch an die zahlreichen kulinarisch und gastronomisch ausgerichteten Wörterbücher nicht heran. Mit dem 1878 erstmals erschienen „Universal-Lexikon der Kochkunst“ in zwei Bänden, „das um die Jahrhundertwende im deutschen Haushalt nicht fehlen durfte“,[3] wurde der Spagat versucht zwischen thematischer Spezialisierung einerseits und – wie der Titel zeigt – Vollständigkeit andererseits. Steckt man das Feld der Kulinarik so weit, dürfen Getränke nicht fehlen. So finden wir in der dritten Auflage von 1886 neben Einträgen wie Grog, Punsch und Knickebein, die dem deutschen Lesepublikum Ende des 19. Jahrhunderts durchaus geläufig waren, moderne amerikanische Getränke wie Mint-Julep und Sherry-Cobbler. Selbst das Blättern zum Buchstaben C führt zum Erfolg [Universal-Lexikon 1 1886, 186]:

Cock-tail. Ein in Amerika sehr beliebtes Getränk, eine Art Grog, welchen man aus Brandy (Franzbranntwein), Bitter-Liqueur, Wasser und Zucker zusammensetzt; zuweilen wird anstatt des Bittern auch Pfeffermünzliqueur genommen.

Noch heute würde man wohl Rezepte finden können, die weiter weg von der Wahrheit sind als dieser Artikel aus einem deutschen Lexikon. Der Grog-Vergleich ist gar nicht so verkehrt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch kalter Grog getrunken wurde: Rum oder eine andere Spirituose, Zucker und Wasser. „Franzbranntwein“ bezeichnet nichts anderes als französischen Weinbrand, im Zweifel also Cognac. Die Verwendung von Bitters wurde richtig erkannt, wohingegen das Ersetzen durch Pfefferminzlikör überrascht. Wir haben gesehen, dass Betty Flanagan ihre Cocktails mit Minze zubereitete, aber auch dort ist nicht die Rede von Minz-Likör. Blicken wir hier auf eine ungenaue Übernahme aus dem Roman? Oder aus Hoppes Supplement-Lexikon? Falls jemand einen Drink nach diesem Rezept nachgebaut haben sollte, kann man nur hoffen, dass der Mensch von alleine auf die Idee kam, Eis zu benutzen.

Zwei Jahre später begegnet der Eintrag aus dem Universal-Lexikon fast wortgleich auf der anderen Seite des Atlantiks in dem Werk „Deutsch-amerikanisches illustrirtes Kochbuch“ eines gewissen Charles Hellstern, das durch Gustav Ferdinand Heerbrandt in New York herausgebracht wurde. Heerbrandt war ein typischer „Forty-Eighter“, also einer jener Deutschen, die in der Folge der gescheiterten Revolution 1848/49 in die Vereinigten Staaten kamen. In der Heimat war er in Haft geraten, weil er sich in seiner Reutlinger Heimat demokratischer „Aufhetzungen“ schuldig gemacht hatte,[4] konnte aber 1850 emigrieren. In Amerika angekommen nahm er seinen Beruf als Verleger wieder auf und brachte Schriften wie die „Schwäbische Wochenschau“ in New York heraus, wo es bereits eine starke Präsenz deutscher Auswanderer gab.

Neben Nachrichten aus der alten Heimat hatten sie Appetit auf vertraute Geschmäcker und wollten sich zugleich die amerikanische Kulinarik aneignen. Auf deutschsprachige Kochbücher, die in den USA erschienen, konnten sie bereits zuvor zurückgreifen, aber Charles Hellstern, der nach eigenem Ausweis Erfahrungen „als Küchenchef der Fürstin Orloff in Paris und Koch in den bedeutendsten Hotels in Europa und in den besten Clubs in Amerika“ hatte [Hellstern 1888, Einleitung], suchte beide Welten, die alte und die neue, miteinander zu verbinden. So heißt es unter der Nr. 2030 [ebd., 407]:

Cocktail. Eine Art kalter Grog, welchen man aus Brandy, Bitter-Liqueur, Eis und Zucker zusammensetzt; zuweilen wird statt des Bitteren auch Pfeffermünz-Liqueur genommen. Man hat Brandy-Cocktail, Whisky-Cocktail, Gin-Cocktail u. s. w., je nachdem man zu einem Glase dieses Getränkes Cognac oder anderen Branntwein nimmt. Das Verfahren ist folgendes: Man thut in ein Glas etwa 2-3 Eßlöffel Bitterliqueur, 2-3 Eßlöffel klargekochten Zuckersirup, 1 Weinglas Cognac, Gin oder Whisky und ein Stück dünn abgeschälte Zitronenschale, füllt das Glas zu einem Drittel mit gestoßenen Eis, schüttet das Getränk einigemale hin und her, seiht es durch und gießt es in ein großes Weinglas. Statt Bitterliqueur kann man guten Pomeranzenliqueur oder Magenbitter nehmen.

Auch wenn der Hinweis auf die Beliebtheit des Getränks in Amerika fehlt (da sich das Lesepublikum ja vor Ort befand), ist der erste Satz nahezu identisch mit dem Eintrag im Universal-Lexikon. Immerhin wird hier Eis statt Wasser verlangt, was sich möglicherweise durch die bessere Verfügbarkeit in den Staaten erklären ließe. Aber wie kommt es zu der starken Ähnlichkeit der beiden Definitionen? Entweder hatten beide Autoren aus derselben Vorlage geschöpft, also entweder aus Coopers Roman oder einem Text, der uns nicht vorliegt. Oder aber Hellstern hat sich im Universal-Lexikon bedient. Sein Artikel ist zwar wesentlich länger, dabei aber im Grunde weitgehend redundant: Auf eine Aufzählung verschiedener Cocktails folgt das (grausige) Rezept, das die Aufzählung der Zutaten im ersten Satz überflüssig macht – zumal dort noch die Zitronenschale fehlt. Besonders auffällig ist die wiederholte Angabe einer Alternative für die Bitters, die im zweiten Durchlauf nicht aus „Pfeffermünz-Liqueur“ sondern aus „Pomeranzenliqueur oder Magenbitter“ besteht. Es erweckt den Eindruck, als hätte Hellstern im Eintrag des Universal-Lexikons die Angaben zur richtigen Zubereitung vermisst und sich daher für seinen Text aus mindestens einer zweiten Quelle bedient, seinen fertigen Eintrag aber nicht final harmonisiert.

Was Hellstern zum „Tom and Jerry“ schreibt, ist ebenfalls fast wortgleich zum Universal-Lexikon zur Kochkunst, zumal dieses Mal auch dort ein Rezept enthalten ist [Universal-Lexikon 2 1886, 553 / Hellstern 1888, 406]:

Tom and Jerry. Dieses beliebte amerikanische Getränk ist eine Art Eierpunsch; man schlägt vier Eier mit sechs gehäuften Eßlöffeln Zucker zu Schaum, gießt sechs Weingläser feinen Rum und 1/2 Liter siedendes Wasser allmählich hinzu vermischt alles gut durch Hin- und Herschütten in zwei Gefäßen und servirt den Punsch in Gläsern, wobei man auf die Oberfläche jedes Glases etwas Muskatnuß reibt.

Tom and Jerry. Eine Art Eierpunsch. Man schlägt vier Eier mit 6 gehäuften Eßlöffeln voll Zucker zu Schaum, gießt 6 Weingläser feinen Rum und ½ Quart siedendes Wasser allmählich hinzu, vermischt alles gut durch hin- und herschütteln in 2 Gefäßen und servirt den Punsch in Gläsern, wobei man auf die Oberfläche jedes Glases etwas Muskatnuß reibt.

Der Hinweis auf die Beliebtheit in Amerika fehlt abermals bei Hellstern. Da die mutmaßliche Vorlage bereits eine Zubereitungsanleitung enthielt, musste er nichts ergänzen. Die beiden Anleitungen gehen jedoch durch einen einzigen Buchstaben auseinander: Während das Universal-Lexikon die Bartechnik des Werfens von einem Gefäß ins andere beschreibt („Hin- und Herschütten), ist es bei Hellstern das Shaken in zwei ineinander gestülpten Gefäßen („hin- und herschütteln). Abgesehen von einigen Vereinfachungen, die das Rezept vornimmt, deuten das Fehlen von Zimt, Nelken und Piment sowie das 2:3-Verhältnis von Ei zu Zucker auf einen Ursprung aus Harry Johnsons „Handbuch für Barkeeper“ hin. Das gilt auch für das Werfen, da es dort ausdrücklich heißt [Johnson 1882, 110]:

dann nehme man ein zweites Glas oder Mug und giesse das Getränk ungefähr 4 bis 5 Mal von einem Glas in’s andere in langen Strömen, streue dann ein wenig Muskatnuss darauf und servire es.

Vielleicht hat Hellstern einen Flüchtigkeitsfehler gemacht, vielleicht hat er aber auch einen solchen vermutet, weil ihm das Shaken von Drinks in den Staaten präsenter war. Bei seinem Eintrag zum Cocktail „schüttet“ man das Getränk hingegen und schüttelt es nicht. Die schwachen Parallelen zu Harry Johnsons Tom-and-Jerry-Rezept können jedenfalls nicht als Beweis dafür dienen, dass das Buch des Deans in Deutschland gelesen wurden.

Hellstern folgt auch dem Eintrag „Mint-Julep, amerikanischer“ des Universal-Lexikons, der bei ihm freilich nur „Mint Julep“ heißt. Andere Einträge wie der zum Sherry Cobbler weisen demgegenüber eine größere Selbständigkeit auf, so dass das Gesamtbild unklar bleibt. Nichtsdestotrotz bleibt der Verdacht bestehen – so lange keine gemeinsame, ältere Quelle zu finden ist –, dass Charles Hellstern in Amerika eine Ausgabe des Leipziger „Universal-Lexikon der Kochkunst“ zur Verfügung hatte, aus der er sich bediente, um seinem deutschsprachigen Lesepublikum amerikanische Mischgetränke näher zu bringen. (Es ist ein wenig, als hätte Dale DeGroff bei Charles Schumann abgeschrieben.)

Zielgruppe war entsprechend dem damaligen Rollenverständnis die deutsche Hausfrau, ob in Missouri oder in Magdeburg. Leider kann man einem Wörterbuch nicht ansehen, wie häufig es absichtlich unter „Cocktail“ aufgeschlagen wurde oder ob der Eintrag tatsächlich jemanden dazu bewogen hat, Gästen so ein Getränk anzubieten. Doch zumindest einen weiteren Lexikon-Herausgeber hat der Artikel im Leipziger „Universal-Lexikon der Kochkunst“ zu einer ganz eigenen Interpretation inspiriert, wie gleich zu zeigen wird.

Crossover: Kulinarische Sprachwissenschaften

Im bewegten 19. Jahrhundert, das in Europa Revolutionen sowie Nationalstaaten hervorbrachte und das den Zusammenbruch der alten Ständeordnung sowie den Aufstieg des Bürgertums sah, konnten auch kulinarisch ausgerichtete Wörterbücher einer quasi-politischen Agenda nutzbar gemacht werden. Die Sorge um den Erhalt der deutschen Sprache in ihrer unverfälschten Form brachte immer wieder schreibfreudige Kulturpessimisten auf den Plan. In der deutschen Küche hatten sich im 18. und 19. Jahrhundert nicht gerade wenige Begriffe aus dem Französischen angesammelt. Das überrascht nicht, da doch gerade die Gourmands in Frankreich die Geburtshelfer der modernen Kochkunst waren und in den Augen vieler immer noch die unangefochtenen Meister auf diesem Gebiet sind.

Auf anderen Gebieten lagen die Dinge mit unserem westlichen Nachbarn deutlich ärger. Ein Höhepunkt der „Erbfeindschaft“ zwischen den heutigen Freunden war der deutsch-französische Krieg 1870/71, den die Deutschen zu ihren Gunsten entscheiden konnten. Er gipfelte in der Gründung des Deutschen Reichs und der Kaiserproklamation Wilhelms I. am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles, dem Prachtschloss Ludwigs XIV. bei Paris. Die provokante Geste illustriert, wie groß die Ressentiments waren. Der Hass gegen den anderen war die Kehrseite eines neuen, überbordenden Nationalbewusstseins des einen. Aus diesem verderblichen Geist heraus veröffentlichte bspw. ein Düsseldorfer Oberkellner namens M. Lunnebach noch im Jahr der Reichsgründung einen „Anfang zur Reinigung der Muttersprache von allen fremden Brocken“. Das Buch enthielt deutsche Alternativen für über 1.400 größtenteils französische Speisenamen, die gleichsam zu Werkzeugen seines fast fanatischen Sprachpurismus wurden [Lunnebach 1871, 3]:

Es muss deshalb der Wunsch jedes Vaterlandsfreundes sein, daß wir von allem Französischen, was sich in deutsche Sitte, Tracht und Sprache eingeschlichen, befreit werden, und Deutsches dafür wieder zur Geltung komme.

Offenbar waren solche Bemühungen nur von begrenztem Erfolg, da wir noch heute von Brioche und Sauce sprechen, anstatt von „Apostelkuchen“ und „Tunke“ [ebd., 12, 64]. Nichtsdestotrotz wurden in der Folgezeit für verschiedene Fächer und Berufszweige so genannte Verdeutschungswörterbücher produziert, so auch 1889 für den kulinarischen Bereich durch den renommierten Dresdner Koch Ernst Lößnitzer. Auch wenn er weniger polemisch als Lunnebach auftritt, beginnt seine Schrift mit einem „Mahnruf an die deutschen Köche“, deren Sprache „durch welsches Gift versehrt“ sei [Lößnitzer 1889, V]. Im Vorwort, das auf Herbst 1888 datiert ist, durfte zudem eine huldigende Erwähnung „unseres jugendlichen erhabenen Kaisers Wilhelm II.“ nicht fehlen [ebd., X f.],[5] der erst am 15. Juni das deutsche Dreikaiserjahr komplettiert hatte, nachdem Friedrich III. als Nachfolger Wilhelms I. nach nur 99 Tagen im Amt verstorben war.

Lößnitzers Verdeutschungswörterbuch bietet auf 248 Seiten eine schlichte, alphabetisch sortierte Liste mit fremdsprachigen Lebensmittel-Bezeichnungen. Darunter finden sich vereinzelt Namen von Mischgetränken wie Grog („Rumtrank“), Mint Julep („Pfeffermünz-Eistrank“) oder Flip („englisches Warmbier“). Manches ist skurril oder scheint falsch zu sein, denn unter einem „Weinkühler“ würde man sich bspw. heute etwas anderes vorstellen als einen Wine Cooler. So rückwärtsgewandt das Buch aus heutiger Sicht erscheint, so modern ist die Zusammenstellung, wie folgender, knapper Eintrag belegt [ebd., 43]:

Cock tail, engl., Pfeffermünzgrog.

Die Definition konnte nur aus der Feder eines Nicht-Eingeweihten stammen, der noch nie einen Cocktail getrunken, geschweige denn, zubereitet hatte. Die Vermutung drängt sich auf, dass Lößnitzer ebenfalls zur zwei Jahre zuvor erschienen Drittauflage des Universal-Lexikons der Kochkunst gegriffen und die ohnehin knappe Erläuterung, dass Cocktail „eine Art Grog“ sei, der zuweilen auch mit „Pfeffermünzliqueur“ statt Bitters zubereitet werde, zu „Peffermünzgrog“ eingedampft hat.

Dabei sei noch einmal betont, dass das Verdeutschungswörterbuch nicht dem Zweck diente, die inhaltliche Bedeutung der Schlagwörter zu erklären, sondern lediglich deutsche Alternativen für fremdsprachige Begriffe in der Küche zu bieten.[6] Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob Lößnitzer davon ausging, dass der „Cocktail“ dem einen oder anderen Kollegen durchaus im Rahmen seiner Tätigkeit begegnen konnte. Das Buch mit exotischen Begriffen aufzufüllen, die in der deutschen Gastronomielandschaft seiner Zeit nicht vorkamen, wäre vor dem Hintergrund der ohnehin großen Materialfülle kaum zielführend gewesen. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass er sein Werk durch ostentativen Modernismus aufwerten wollte und er dementsprechend keine Ahnung hatte, was er da aus dem Universal-Lexikon abschrieb bzw. was vielleicht sogar bei Coopers Betty Flanagan seinen Ursprung hatte.

Während der Cocktail hier wie in den anderen betrachteten Lexika nicht viel mehr als ein ominöser Begriff zu sein scheint, nimmt er im lexikographischen Werk eines der Autoren, die an Lößnitzers Verdeutschungswörterbuch beteiligt waren, ungleich deutlicher Gestalt an: Der Leipziger Verleger Dr. Paul Martin Blüher war ein akribischer Sammler und Komplettist, der zahlreiche und wertvolle Schlaglichter auf die Entstehung der Cocktailkultur in Deutschland am Vorabend des 20. Jahrhunderts geworfen hat – wie in Kürze im Fortsetzungsbeitrag über deutsche Lexika des 19. Jahrhunderts zu zeigen sein wird.


Fußnoten

[1] The Concise Oxford Dictionary, 7. Aufl., 1982, 179, weist die Bedeutung „upstart“ den „earlier senses“ zu.

[2] James Fenimore Cooper, Der Spion, oder Das neutrale Land. Ein Gemälde nordamerikanischer Sitte und Natur zur Zeit des Freiheitskampfes, Leipzig: Focke 1824; Der Spion: Roman des Amerikaners Cooper aus dem nordamerikanischen Revolutionskriege, Übers. L. Hermann, Leipzig: Ernst Klein 1825; Cooper 1826.

[3] Frohe Gemüter, in: Spiegel 7/1989, https://www.spiegel.de/politik/frohe-gemueter-a-fe777bf1-0002-0001-0000-000013493765, Abruf am 07.08.2023. Es existiert ein moderner Nachdruck der dritten Auflage, der das Original Richard Gollmer zuschreibt, ohne dass der Name in dem Buch auftaucht. Gollmer war zum Zeitpunkt des Erscheinens der 3. Auflage 20 Jahre alt, womit er zumindest für die Herausgabe der ersten beiden Auflagen von 1878 und 1881 ausscheiden dürfte.

[4] Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Findbuch E 271 c Kriegsdepartement, 1849-1869, https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olf/struktur.php?bestand=4230&sprungId=802728, Abruf am 11.08.2023.

[5] Wilhelm II. kam anscheinend selbst am 19. Januar 1895 in den Genuss eines Cocktails („kochtael“) bei einem Dinner auf der USS New York anlässlich der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals in Kiel. Vgl. „Wanted Another Cocktail”, in: New York Journal, Nachdruck in Boston Globe, 03.07.1898, 15, zitiert nach: Greg Moore, The Kaiser and the cocktails, in: Cocktail 101, 10.01.2012 https://cocktail101.wordpress.com/2012/01/10/the-kaiser-and-cocktails/, Abruf am 07.08.2023.

[6] Eine ähnliche Stoßrichtung hat ein Artikel aus dem Magazin „Hansa. Deutsche nautische Zeitschrift“ aus, in dem der Marinestationspfarrer Gustav Goedel die Durchsetzung der Seemannssprache mit englischen Begriffen für verzichtbar erklärt, da die meisten englischen Wörter ohnehin aus dem Deutschen kämen [Goedel 1893, 498]: „Wenn wir von einigen modernen Wörter wie bulleye, pantry, cocktail und allenfalls noch steward absehen, die erst in sehr späten Tagen durch den Verkehr mit der englischen Marine und den Besuch englischer Kolonieen aufgekommen sind, so können wir mit gutem Gewissen sagen, dass das, was mir mit solcher Zuversicht als geborgte englische Waare bezeichnet worden war, altdeutscher, ureigener, ehrwürdiger Besitz ist.“ Sein „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Seemannssprache“ von 1902 enthielt leider keinen Eintrag „Cocktail“ [Goedel 1902].


Quellen & Literatur

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